Allgemeine Zeitung Mainz: Der Literaturpapst / Kommentar zu Marcel Reich-Ranicki

Nett ist er nie gewesen. Wollte er auch nicht. Nett
zu sein, davon war er felsenfest überzeugt, sei nicht die Aufgabe der
Kritik. Im stillen Kämmerlein würde fast jeder Feuilletonist diesen
Satz unterschreiben. Aber den Mut, sich konsequent daran zu halten,
haben die wenigsten. Marcel Reich-Ranicki, der größte unter den
großen Literaturkritikern der Republik, hatte diesen Mut: den Mut zum
klaren Urteil, den Mut, sich gegen die verbreiteten Trends im
Literaturzirkus zu stellen. Doch es ging ihm nicht ums Auffallen, ums
Besonders-Sein. Er wollte der guten Literatur zum Erfolg verhelfen –
und vor schlechten Büchern warnen. Die Autoren hassten ihn zeitweilig
dafür. Dass sie ihn als „Literatur-Papst“ titulierten, war denn auch
keineswegs als Lob gemeint – in der Bezeichnung schwangen eher
Bedeutungen wie Amtsanmaßung, gar Amtsmissbrauch mit. Doch was hieß
da „Amt“: Niemand hatte ihn in ein Amt befördert. Die Aufmerksamkeit
brachte ihm das Publikum freiwillig entgegen – für sein Temperament,
für die Klarheit seiner gedruckten Kritiken, später für die
Deutlichkeit seiner Diskussionsbeiträge im Fernsehen. Viele
Berufskollegen belegten sein Tun daraufhin sauertöpfisch mit dem
Attribut „populistisch“ – als sei Gelesen- und Gehört-Werden im
Kritiker-Gewerbe etwas nachgerade Unerhörtes. Durch Marcel
Reich-Ranicki verließ die Literaturkritik die Gelehrtenstube und
erreichte, um ein Wort aus Brechts „Galilei“ zu variieren, für kurze
Zeit „die Marktplätze“. Eine goldene Zeit. Dafür darf sich die Zunft
jetzt ruhig vor ihm verbeugen. Auch wenn er das gar nicht mochte: das
Verbeugen.

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