Ein Abgeordneter ist ein freier Mensch –
zumindest theoretisch. In der Praxis bestimmen nur allzu oft andere,
worum er sich zu kümmern und wie er abzustimmen hat. Widerspenstige
Naturen, die sich eine eigene Meinung erlauben und den Fraktionszwang
gelegentlich ignorieren, haben es auch in der Politik schwer. Im
günstigsten Fall werden sie als notorische Außenseiter belächelt. Im
ungünstigsten werden sie vor der nächsten Wahl auf einen
aussichtslosen Listenplatz verbannt. Eine parlamentarische Demokratie
allerdings funktioniert nur, wenn sich Fraktionen ihrer Mehrheiten im
Regelfall auch sicher sein können und ein Regierungschef nicht bei
jeder Abstimmung die Vertrauensfrage stellen muss. Die neuen Regeln
für das Rederecht im Bundestag, die Union, SPD und FDP planen, gehen
deshalb auch nicht zu weit. Weder verleihen sie den mächtigen
Fraktionsvorsitzenden und ihren Geschäftsführern noch mehr Macht,
noch degradieren sie den Parlamentspräsidenten zu einer Art
Grußonkel, noch entmündigen sie die Abgeordneten. Nachdem
Bundestagspräsident Norbert Lammert in den Beratungen über den
Euro-Rettungsschirm im Herbst vergangenen Jahres zwei Abweichlern
publikumswirksam das Wort erteilt hat, war die Aufregung groß und die
Rechtslage unklar. Darf der das überhaupt? Den winzigen Spielraum,
den Lammert damals für einen plakativen Eingriff in die Dramaturgie
der Debatte genutzt hat, sichern die drei großen Fraktionen mit ihrer
Initiative nun auch in der Geschäftsordnung ab. Im Zweifelsfall
entscheidet über solche Auftritte auch in Zukunft nicht eine alles
regelnde und kontrollierende Fraktion, sondern eine politische und im
Idealfall überparteiliche Autorität wie der Präsident des
Bundestages. Ein Parlament muss abweichende Meinungen auch zur besten
Sendezeit ertragen können. Gegen Abgeordnete wie Willsch und
Schäffler helfen schon deshalb keine Maulkörbe, sondern nur gute
Argumente. Auftritte wie ihre sind die Ausnahme und nicht die Regel –
und solche Ausnahmen wird der Bundestag auch in Zukunft aushalten.
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