Badische Neueste Nachrichten: Fiktiver Mittelweg

Wieder einmal ist Gipfel, wieder einmal versinkt
eine Metropole im Ausnahmezustand. Diesmal trifft es Chicago, die
Stadt, aus der Barack Obama ins Oval Office zog. Allein die
Raumschiffatmosphäre der weiträumig abgeriegelten Kongresshalle,
menschenleere Straßen, Tausende von Polizisten – das alles lässt
daran zweifeln, ob Nutzen und Aufwand eines solchen Spektakels noch
im richtigen Verhältnis stehen. Die Nato berät über Afghanistan, über
einen Abzug auf Raten. Er soll den Westen das Gesicht wahren lassen
und zugleich verhindern, dass die Taliban die Macht in Kabul erneut
an sich reißen. Doch überschattet wird die Krise am Hindukusch von
einer anderen, deren Brennpunkte in Athen, Madrid und Rom liegen. Es
sind die Turbulenzen der Euro-Zone, die über den Haufen werfen oder
zumindest an den Rand drücken, was sich die internationale
Konferenzdiplomatie an Themen zurechtgelegt hat, sowohl bei der
G-8-Runde in den Wäldern Camp Davids als auch bei der Nato-Tagung am
Michigansee. Herausgekommen sind schwammige Papiere, gespickt mit
salomonischen Formeln, aus denen jeder alles herauslesen kann. Man
will das Wachstum ankurbeln, sparen will man aber auch, irgendwo auf
dem goldenen, dem fiktiven Mittelweg. Den Passus, wonach Griechenland
im Euro-Club bleiben, aber zugleich erfüllen soll, was es zugesagt
hat, die einen lesen ihn als verhüllte Drohung, andere als
solidarisches Bekenntnis. Und vor allem: Eine Weltwirtschaftsrunde,
in der Schwergewichte wie China, Indien oder Brasilien fehlen, bleibt
von vornherein ein Fragment. Es macht keinen Sinn mehr, am
Anachronismus der G 8 festzuhalten, wenn sich mit den G 20 längst ein
angemesseneres, ausgewogeneres Forum entwickelt hat. Man darf nicht
vergessen, unter welchem innenpolitischen Druck die Versammelten
stehen, auch das erklärt schließlich die Formelsprache der
windelweichen Kompromisse. Ob Hollande, Obama oder Merkel: Alle
spielen zunächst einmal vor der heimischen Galerie, die ihnen im
Zweifelsfall wichtiger ist als die Kongresse der Globalisierung.
Manches an Obamas Rhetorik lässt schon jetzt vermuten, wem er die
Schuld in die Schuhe zu schieben gedenkt: Angela Merkel, der
zögernden, zaudernden Deutschen.

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