Badische Neueste Nachrichten: Kommt die Agenda 2020?

Der Alltag hat sie wieder. Gespräche mit dem
französischen Staatspräsidenten Hollande und dem griechischen Premier
Samaras, dazwischen Trips nach Kanada und Moldau sowie diese Woche
nach China. Während die Gesetzgebungsarbeit ruht, weil der Bundestag
noch in der Sommerpause ist, ist für Bundeskanzlerin Angela Merkel
der Urlaub Vergangenheit. Geändert hat sich wenig, die Themen sind
die gleichen. Die Euro-Krise kennt keine Ferien, die Lage in
Griechenland spitzt sich dramatisch zu, eine Entscheidung über
Verbleib oder Austritt der Hellenen aus der Euro-Zone rückt näher.
Ein heißer Herbst steht bevor. Das aber bleibt nicht ohne Folgen für
die Innenpolitik. Die Euro-Krise dominiert nicht nur, sondern bindet
auch die gesamten Kräfte der maßgeblichen Akteure der Regierung. Im
eigenen Land herrscht praktisch Stillstand, wichtige Projekte von der
Zuschussrente über das Urheberrecht bis zur Vorratsdatenspeicherung
dümpeln vor sich hin oder liegen auf Eis, weil sich die
Koalitionspartner nicht einigen können und ihren Streit auf offener
Bühne austragen. Und Besserung ist nicht in Sicht, im Gegenteil, es
droht Erstarrung. Es beginnt das letzte Jahr der Legislaturperiode,
in dem die Entscheidungsfreudigkeit einer Regierung rapide abnimmt,
die Parteien gehen auf Distanz und schärfen ihr Profil. Im Wahljahr
2013, das mit dem wichtigen Urnengang in Niedersachsen bereits im
Januar beginnt, geht praktisch nichts mehr, es wird bis November
dauern, bis die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind und eine
neue Regierung ihre Arbeit aufnimmt, die ersten Gesetze werden erst
Anfang 2014 verabschiedet. Politischen Stillstand aber kann sich
dieses Land angesichts der gewaltigen Probleme nicht erlauben.
Bereits in den Koalitionsverhandlungen gelang es Union und FDP nicht,
sich auf eine konkrete Agenda für die Zeit bis 2013 zu verständigen,
vieles blieb offen, vage und unkonkret, die Wunschpartner trugen
fortan ihre zahllosen Konflikte auf offener Bühne aus. Die im
Koalitionsvertrag vereinbarte große Steuerreform wurde von Angela
Merkel kurz und schmerzlos versenkt, die sozialen Sicherungssysteme
wurden allenfalls in homöopathischen Dosen an die gewaltigen
Herausforderungen der Zukunft angepasst, trotz Steuereinnahmen in
Rekordhöhe und der historisch einmaligen Ausnahmesituation, neue
Schulden ohne Zinslasten aufnehmen zu können, stieg die
Neuverschuldung weiter in die Höhe und die Energiewende kommt nicht
voran. Angela Merkel und ihre Koalition profitierten von der
brummenden Wirtschaft und den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen
Regierung unter Gerhard Schröder, die „Agenda 2010“ zeigte ihre
Wirkung und fuhr eine satte Dividende ein. Das verführte die
Regierenden zur Bequemlichkeit, die fetten Jahre wurden nicht
genutzt, um für schlechte Zeiten vorzusorgen. Dabei gibt es mehr als
genug zu tun. 2019 laufen der Länderfinanzausgleich und der
Solidarpakt aus, die komplizierten Finanzbeziehungen zwischen Bund,
Ländern und Kommunen müssen auf völlig neue Beine gestellt werden.
Die ab 2020 geltende Schuldenbremse zwingt zu einer tief greifenden
Haushaltskonsolidierung mit massiven Ein- und Umschichtungen, die
Sozialversicherungen müssen dauerhaft demografiefest gemacht werden,
die Energiewende bedarf sehr rasch eines in sich abgestimmten
Gesamtkonzeptes und eines straffen Zeitplans. Wer auch immer die
nächsten Wahlen gewinnt und im kommenden Herbst ins Kanzleramt
einzieht, wird nicht nur die Euro-Krise erben, sondern auch einen
Berg ungelöster Probleme im eigenen Land. Höchste Zeit für eine
„Agenda 2020“.

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Klaus Gaßner
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