Die Sterbehilfe wird gerichtlich revolutioniert,
beim Gipfel in Toronto wird die Weltwirtschaft neu geordnet, die FDP
sucht endlich Haltung, und beim Großflughafen BBI läuft auch nichts,
wie es soll. Überall geschieht Großes, aber Deutschland redet nur
über ein Thema: das Spiel gegen England. Gut so. Es geht ja nicht um
22 Halbstarke, die einer Lederkugel hinterherjagen, sondern um die
Geschichten, die da in 90 Minuten angestoßen werden, Geschichten, die
sich im Laufe der Zeit zu gewaltigen Volkserzählungen entwickeln und
inzwischen jene Kriegsmythen überlagern, die jahrhundertelang das
Ansehen der Nationen prägten. Fußballspiele, die modernen Dramen,
erzählen von Untergang und Wiederauferstehung, Hochmut und Disziplin,
vom Wembley-Tor und vergurkten Elfmetern, vom tragischen Trottel
Gascoigne, von Kaiser Franz und merkwürdigen Randerscheinungen wie
jenen knochigen, aufgepumpten Barbies, die sich im britischen Fußball
zuverlässiger tummeln als im Dunstkreis von Dieter Bohlen. Es ist
kein Kampf der Kulturen, aber ein Wettbewerb der Lifestyles, der da
auf dem Rasen ausgetragen wird. Auf der einen Seite das bröckelnde
Empire, das sich so gern selbst spielt, das Werte, Traditionen und
Sportmanship bemüht, aber mit Spielern wie John Terry zurechtkommen
muss, der von Ehre redet, sich zugleich aber über die Gespielin
seines Mannschaftskameraden hermacht. Gegen derlei Raubauze stehen
geradezu provozierend wohlerzogene deutsche Spieler, vielleicht nicht
alle genial, aber halbwegs diszipliniert. Gegen die Ungezügelten
wirken Schweini, Poldi und die anderen wie deutsche Studienräte, die
über Mallorcas Hügel wandern, während unten in Magaluf die
Kampftrinker marodieren. Kann gut sein, dass die britische Urgewalt
an diesem Sonntag endlich mal wieder zu halbwegs ansehnlichem Fußball
führt und die junge deutsche Elf schlicht überrannt wird. Kann aber
auch sein, dass der gewaltige Erwartungsdruck die Nachkommen der
Fußball-Erfinder in die nächste Blamage treibt. Für Löws Buben wäre
es nicht schön, aber auch keine Schande, gegen Englands Star-Ensemble
auszuscheiden; für die Briten hingegen die Fortsetzung einer
unheilvollen Serie, die auch in anderen internationalen Wettbewerben
zu beobachten ist. Beim European Song Contest etwa schaffte ein
milchiges Bübchen aus dem Mutterland des Pop gerade mal zehn Punkte
und damit den letzten Platz. Früher gab es die Beatles, heute Susan
Boyle. Früher gab es integre Sportsmänner wie Bobby Moore, der die
Mannschaft 1966 zum WM-Titel führte, heute egomanische Haudraufs wie
Wayne Rooney. Wir warten also mit einiger Spannung ab, ob das
Wunderkind Rooney die deutsche Elf tatsächlich im Alleingang
erledigt, wie er selbstbewusst verkündet hat. Spätestens im
Elfmeterschießen, das den Zuschauern hoffentlich beschert wird, kann
er dann zeigen, was er wirklich drauf hat, auch nervlich. Manuel
Neuer freut sich schon. Fest steht schon jetzt: Es wird eine weitere
große Geschichte erzählt.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
CvD Matthias Heine
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de