Freitagabend an der Messe. Ein Meer von
Blaulichtern, Feuerwehren, Krankenwagen. Erster Gedanke – Anschlag.
Hektische Telefonate, dann Entwarnung: Dreharbeiten. Paketbomben und
Terrorwarnungen aktivieren selbst bei gelasseneren Seelen den
„availability bias“, zu Deutsch etwa: den Verfügbarkeitsfehler. Unser
Bild von der Realität wird geprägt von den naheliegendsten Gedanken.
Und wenn allenthalben vor Terroristen gewarnt wird, dann gerät jedes
Blaulicht, jede herrenlose Plastiktüte zur gefühlten Bombe. Das
Grelle nimmt unser Hirn nun mal lieber als das Alltägliche. Terror
ist weniger eine militärische Strategie als vielmehr abgefeimte
Kommunikationstechnik, die sich die Lust am Lauten und Gemeinen
zunutze macht. Es geht den Attentätern nicht nur darum, viele
Menschen zu töten, sondern globale Angst zu verbreiten. Denn der
Terror und die vielen Warnungen davor verschieben das Risiko-Ranking
in den Köpfen: Zwar ist die Wahrscheinlichkeit unendlich viel höher,
mit dem Rad, durch Krebs oder im Haushalt ums Leben zu kommen.
Dennoch wächst in Tagen wie diesen die Furcht, überhaupt vor die Tür
zu gehen. Seit dem Aufkommen des „homegrown terrorism“, dessen
Attentäter in den Ländern ihrer Anschläge aufgewachsen sind, gibt es
nicht mal mehr äußerliche Indizien: Jeder Mensch mit Tasche ein
potenzieller Täter. Ausgerechnet die Sicherheit, das deutsche
Lieblingsgefühl, gerät in Gefahr. Die psychologischen Verwüstungen,
die durch den Verfügbarkeitsfehler angerichtet werden, gehören zu den
kaum sichtbaren, aber deutlich spürbaren Folgen des globalen
Terrorismus. Denn Angst verändert erst Denken und dann Handeln.
Terror treibt viele kleine giftige Keile in die westlichen
Gesellschaften; die gründen auf der Idee von freier Entfaltung für
alle. Nun werden Gesetze verschärft, Freiheiten eingeschränkt,
Billionen teure, aber nicht zu gewinnende Kriege geführt, die selbst
eine Weltmacht auszehren, und Sicherheitsmaßnahmen bis ins Absurde
perfektioniert. Sollen wir wirklich jedes einzelne Weihnachtspäckchen
kontrollieren? Auch die gigantische Wutlawine, die durch das
Sarrazin-Buch ins Rollen kam, mag mit diffuser Angst zu tun haben.
Wenn kein greifbarer Gegner da ist, sucht sich das
Entlastungsbedürfnis eben andere, naheliegende – da wirkt der
„availability bias“. Ohne „9/11“ und die daraus erwachsenen
kulturellen Ängste hätte der frühere Finanzsenator wohl kaum eine
Million Exemplare abgesetzt. Natürlich wäre es naiv, die Terrorgefahr
zu ignorieren. Mindestens so zerstörerisch wäre es aber, den Tätern
auf den Leim zu gehen und die Keile immer weiter in ein Gemeinwesen
treiben zu lassen, das lange gebraucht hat, sich zu entwickeln,
zugleich aber fragil genug ist, um ins Wanken zu geraten. Terror ist
nicht nur ein Stresstest für Polizei und Dienste, sondern auch für
unsere demokratische und liberale Haltung. Die Bin Ladens dieser Welt
wollen nicht uns töten, sondern unsere Gesellschaft. Unsere Angst
beflügelt ihr schmutziges Geschäft. So leicht sollte es eine
wehrhafte Gesellschaft den Irren nicht machen.
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