BERLINER MORGENPOST: Willkommen in der Realität Leitartikel von Joachim Fahrun über die neue Berliner Entschlossenheit gegen Schulschwänzen.

Manchmal dauert es etwas länger, bis sich in der
Politik Bewusstsein für das Notwendige entwickelt. Vor allem dann,
wenn ein solcher Erkenntnisprozess sich in Berlins SPD abspielt und
wenn es um Bildungspolitik geht.

Der Kampf gegen das an Berlins Schulen massiv verbreitete
Dauerschwänzen ist ein solches Thema. Vor fünf Jahren hatte der
Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky versucht, auf einem
SPD-Landesparteitag ein Paket von Maßnahmen gegen Schulschwänzer
beschließen zu lassen. Da ging es schon um verbindliche Regeln im
Umgang mit dem Phänomen, es ging um Sanktionen und Druck auf die
Eltern, aber auch um mehr Prävention, um bessere Vernetzung der
Schulen mit Jugendämtern und Polizei, weil kriminelle Karrieren nicht
nur in Neukölln oft mit Schulverweigerung beginnen. Die SPD, die auch
damals den Bildungssenator stellte, versenkte den Vorstoß in
Arbeitsgruppen. Geschehen ist seither wenig, messbare Erfolge gibt es
jedenfalls nicht. Weiterhin bleibt jeder fünfte Schüler in Berlin
zwei Wochen oder länger unentschuldigt dem Unterricht fern. Die 75
Seiten dicke Handreichung mit allerlei Pädagogen-Lyrik und „Könnte-,
Müsste-, Sollte-Aussagen“, an der sich Lehrer und Schulleiter
orientieren sollen, hat in der Praxis wenig geholfen.

Jetzt hat die SPD-Fraktion endlich beschlossen, was schon seit
Jahren eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Dass nämlich die
Schulpflicht in Berlin konsequent durchzusetzen ist. Dazu gehört,
dass es klare Handlungsanweisungen für Lehrer in allen Bezirken geben
muss, was sie schon am ersten geschwänzten Tag zu tun haben, bis hin
zu der Pflicht, über hartnäckige Fälle gemeinsam mit Polizei,
Gerichten und Jugendamt zu beraten sowie zwingend das Gespräch mit
den Eltern zu suchen. Dass die CDU und auch Teile der SPD gerne auch
noch Aussagen über Sanktionen wie Bußgelder in dem Text gehabt
hätten, zeigt nur, dass der Erkenntnisgewinn bei den Sozialdemokraten
noch nicht abgeschlossen ist. Denn es schadet nicht, auch die letzten
Mittel zu benennen, die dem Staat zur Verfügung stehen, wenn alle
Hilfen, Angebote und pädagogischen Konzepte nicht fruchten.

Für Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) und ihren aufgeblähten
Beamtenapparat ist die Fraktionsentscheidung eine Ohrfeige.
Eigentlich sind sie es, die seit Jahren erkennbare Missstände wie das
Dauerschwänzen angehen müssten. Aber wie schon bei dem
Sonderförderprogramm für Problemschulen oder der Forderung nach
weniger Datenschutz für schwierige Schüler können die zuständigen
Experten und ihre Chefin nur nachtäglich begrüßen, was Volksvertreter
mit gesundem Menschenverstand angestoßen haben.

Dass die SPD-Fraktion sich einstimmig zu einer solchen Linie
bekennt, ist eine kleine Revolution. Lange wurden Vorschläge der
konservativeren Genossen von der linken Mehrheit ignoriert. Erst
unter der neuen Partei- und Fraktionsführung sind auch Konzepte der
SPD-Rechten salonfähig geworden. Ein pragmatischer Umgang mit den
Realitäten kann der SPD helfen, mehrheitsfähig zu bleiben in einer
bürgerlicher werdenden Stadt.

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