Den Gipfel politischer Darstellungskunst erlebte
die Republik vergangene Woche auf preußischem Terrain. In Potsdam, wo
der Genius Loci vorsieht, dass jeder nach seiner Fasson glücklich
werden möge, trafen sich Kanzlerin, Besser-Präsident Gauck und andere
hochmögende Herrschaften, um sich ihrer guten demokratischen
Gesinnung zu versichern. Mohammed-Karikaturist Westergaard wurde
gefeiert, als Fackelträger der Meinungsfreiheit. Vergessen, dass der
Bekenntnisdrang der deutschen Elite deutlich schwächer ausgeprägt
war, als es dem Zeichner konkret an die Kehle gehen sollte. In
Wirklichkeit aber war die Potsdamer Show eine kollektive
Übersprungshandlung, die vor allem der eigenen seelischen Entlastung
diente. Denn draußen im Lande ging es nicht um Karikaturen, sondern
um Thilo Sarrazin. Teile des Volkes wittern allenthalben eine
Verschwörung von „denen da oben“, die den schnauzbärtigen Provokateur
mundtot machen wollen. Das Klima ist derart vergiftet, dass nicht
ganz klar war, ob die Scharfschützen auf den Dächern nur aufgebrachte
Islamisten fürchteten oder auch kopflos wütende Biederbürger. Die
dringendste Frage des Tages blendeten die Freunde der
Meinungsfreiheit aus: Was tun mit Sarrazin? Der Thesenritter mit dem
Provokations-Tourette hatte im Alleingang die Anführer beider großer
Volksparteien, Bundesbank-Chef Weber, alle deutschen Leitmedien, vor
allem aber den Bundespräsidenten in die Bredouille gebracht. Sollte
Christian Wulff den Banker auf wackeliger juristischer Grundlage
entlassen und einen ewigen Schauprozess riskieren, der seine
Autorität dauerhaft zu untergraben drohte? Darf das Staatsoberhaupt
einen Märtyrer schaffen, der die Symbolmacht gehabt hätte, das Land
dauerhaft zu spalten? Maximale Hysterie bei minimalen
Handlungsoptionen – so gelähmt und erregt zugleich war die Republik
noch selten. Während die Tagespolitiker mit verzweifelter Grandezza
in Potsdam „Wir sind die Guten“ aufführten, das liebste Spiel der
politischen Klasse, hatte sich in Berlin zumindest einer um die
Lösung des unseligen Konflikts gekümmert: der Bundespräsident
persönlich. Wulff tappte nicht in die Polarisierungsfalle, sondern
übte sich als Mediator. Im Verborgenen, ohne verlockendes mediales
Begleitgetöse, suchte der Präsident nach einer Möglichkeit, die
Interessen aller Beteiligten zu wahren. Und er hat sie gefunden:
Donnerstagabend gab Sarrazin seinen Rückzug bekannt – die beste aller
denkbaren Optionen. Zum Schnäppchenpreis von 1000 Euro monatlicher
Pensionszulage – eine Sprache, die der Zahlenmensch Sarrazin sofort
versteht – hat das Staatsoberhaupt dem Aufrührer seinen freiwilligen
Abgang abgehandelt. So hat Sarrazin sein Gesicht gewahrt und
Bundesbank-Präsident Weber seine Chancen auf den Posten des
EZB-Chefs. Der Kanzlerin und ihrem Herausforderer Gabriel wird etwas
Luft verschafft in einer wüsten innerparteilichen Debatte und dem
Land eine toxische Diskussion. Natürlich hat Wulff auch sich selbst
eine heikle Angelegenheit vom Hals geschafft. „01“, wie der Präsident
im Schloss Bellevue genannt wird, hat eine Wutbombe entschärft und
der Republik zugleich gezeigt, dass das Suchen nach Win-win-Lösungen
allemal effektiver ist als das lautstarke aber folgenlose Gebalge,
das derzeit auf allen politischen Ebenen herrscht. Erstmals hat der
neue Bundespräsident erkennen lassen, welche Rolle er einzunehmen
gedenkt: die des Brückenbauers, der sich nicht scheut, in die
Tagespolitik einzugreifen. Was hätten Wulffs Vorgänger in einer
derart vertrackten Lage getan? Ob Weizsäcker, Herzog, Rau, Köhler und
wahrscheinlich auch Gauck – alle hätten mit amtsimmanentem Hochmut
ein ausgefeiltes Manuskript gezückt und eine besorgte Rede gehalten,
die sich um Verantwortung, Miteinander, Christenpflicht und natürlich
die Vergangenheit gedreht hätte. Passiert wäre allerdings nichts.
Wulff ist kein großer Redner, aber ein erfahrener Mediator, wie er in
Niedersachsen oft bewiesen hat, etwa bei der Schlacht um VW. Was kaum
jemand in einer Gauck-romantischen Republik erwartet hätte, ist dem
jungen Staatsoberhaupt gelungen: eine neue Interpretation des Amtes,
weg von der folgenlosen Rederei, hin zu pragmatischem Lösungshandeln.
Christian Wulff hat mit seiner ersten relevanten Tat das Präsidialamt
auf ein neues Bedeutungsniveau gehoben, als Clearing-Instanz für
heikle politische Fälle. Er hat sich leise, aber beharrlich
eingemischt und allen Beteiligten aus der Patsche geholfen,
überparteilich, wie es seine Aufgabe ist. Ein Einzelfall? Eher nicht.
In Zeiten, da die Regierungschefin Entscheidungen eher umgeht und die
Opposition nur selten weiß, was sie will, gewinnt ein unaufgeregter,
aber hochpolitischer Präsident ganz automatisch an Statur und Macht.
Diese Chance wird sich Wulff nicht entgehen lassen.
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