Berlin – In der Bundesrepublik sind seit der
Wiedervereinigung mindestens 137 Menschen bei Angriffen von Neonazis
und anderen rechten Gewalttätern ums Leben gekommen. Das ergeben
gemeinsame Recherchen des Tagesspiegels, des Online-Portals
Tagesspiegel.de sowie der „Zeit“ und „Zeit Online“. Die Zahl der
Todesopfer rechter Gewalt ist demnach fast dreimal so hoch wie von
Bundesregierung und Polizei bislang gemeldet. Die Regierung spricht
von lediglich 47 Toten. Für das Jahr 1994 und den Zeitraum von 2003
bis 2007 wird offiziell kein einziges Todesopfer rechter Gewalt
genannt. Tagesspiegel und „Zeit“ kommen hingegen allein für diese
Jahre auf insgesamt 21 Tote. In den Statistiken der Polizei, die an
die Bundesregierung weitergegeben werden, fehlen selbst spektakuläre
Fälle rechtsextremistischer Gewaltkriminalität. So bleibt das
Verbrechen des Neonazis Thomas Adolf ungenannt, der im Oktober 2003
in Overath (bei Köln) einen Rechtsanwalt, dessen Frau und die Tochter
erschossen hatte. Das Landgericht Köln verurteilte Adolf im Dezember
2004 zu lebenslanger Haft. Die Richter bescheinigten dem Mörder,
aufgrund seiner nationalsozialistischen Gesinnung habe er sich
angemaßt, „unter Berufung auf die Fortgeltung des Führerbefehls und
der Reichsgesetze ein historisches Zeichen setzen zu müssen“. Die
Kammer sprach von besonderer Schwere der Schuld und verfügte eine
Sicherungsverwahrung, da zu befürchten sei, dass Adolf nach der Haft
den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen werde. Dennoch stufte die
Polizei diesen Fall nicht als rechts motiviertes Tötungsverbrechen
ein. Bei einem anderen Tötungsverbrechen gibt die Justiz inzwischen
zu, dass nach einem rechten Motiv nicht weiter gefragt wurde. Im
April 2008 hatte in Memmingen (Bayern) ein Rechtsextremist seinen
Nachbarn erstochen, weil der sich über laut abgespielte rechte Musik
beschwert hatte. Das Landgericht Memmingen verurteilte den Täter im
Dezember 2008 in einem Prozess, der nur einen Tag dauerte, wegen
Totschlags zu acht Jahren und drei Monaten Haft. Ein rechtes Tatmotiv
wurde nicht festgestellt. Der Vizepräsident des Gerichts gab jetzt
zu, die Strafkammer habe es bei der „äußeren Sachaufklärung“
belassen. Im Rückblick sei ein rechtsextremer Hintergrund der Tat
wahrscheinlich. Tagesspiegel und „Zeit“ haben über mehrere Monate
Urteile gesichtet, Staatsanwaltschaften, Gerichte,
Sicherheitsbehörden sowie Opferberatungsstellen befragt und mit
Hinterbliebenen getöteter Menschen gesprochen. Dabei zeigte sich,
dass in Teilen von Polizei und Justiz offenbar das ausführliche
Erfassungssystem zur politisch motivierten Kriminalität (PMK), das
die Innenminister im Jahr 2001 eingeführt hatten, kaum wahrgenommen
wird. Im Bundesinnenministerium hieß es jedoch in einer ersten
Reaktion auf die Recherchen von Tagesspiegel und „Zeit“, das
PMK-System sei deutschlandweit „angekommen“. Es gebe allerdings in
den Ländern bei der Erfassung rechter Kriminalität eine
„systemimmanente Bewertungsbreite“. Zeit Online und Tagesspiegel.de
haben zu den 137 Fällen weitere Einzelheiten recherchiert und werden
die Recherche-Ergebnisse in interaktiven Infografiken präsentieren,
die ab Donnerstag, den 16. September, unter diesen Adressen
erreichbar sind: www.zeit.de/todesopfer-rechter-gewalt und
www.tagesspiegel.de/opferliste.
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