HAMBURGER ABENDBLATT: Hamburger Abendblatt zur Pflegereform

Ein Kommentar von Nina Paulsen

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es gleich zu
Beginn in unserem Grundgesetz. Auch wenn man vorsichtig sein sollte,
diesen Satz nicht allzu beliebig zu verwenden, ist die Würde ein
wesentlicher Bestandteil jenes Wunsches, der alle Menschen eint, wenn
es um ihren Lebensabend geht: „In Würde altern“, lautet er und er ist
zu einem Sinnbild geworden. Etwa dafür, so lange wie möglich
selbstbestimmt seinen Alltag zu bestreiten. Dafür, so lange wie
möglich eigene Entscheidungen treffen zu können und im Falle von
Krankheit und Schwäche liebevolle Pflege und verantwortungsvolle
Fürsorge zu erhalten. So viel zu den Wunschvorstellungen. In der
Realität steht die Pflege im Moment jedoch vor gewaltigen
Herausforderungen: Mit der alternden Gesellschaft werden auch immer
mehr Menschen in Deutschland auf Hilfe angewiesen sein. 2,4 Millionen
sind bereits heute pflegebedürftig, schon in wenigen Jahrzehnten wird
ihre Zahl auf vier Millionen steigen. Rund 1,4 Millionen Bundesbürger
sind zudem an Demenz erkrankt. Auch hier, so schätzen Experten, wird
sich die Zahl in 50 Jahren verdoppelt haben. Außerdem gibt es immer
weniger Erwerbstätige und damit weniger Beitragszahler für die
umlagefinanzierte Pflegeversicherung. Auch die Zahl potenzieller
Pflegekräfte sinkt. In einer flexibler werdenden Arbeitswelt wird es
zudem immer seltener möglich sein, dass sich die Kinder selbst um
ihre hilfebedürftigen Eltern kümmern können. Man lebt dort, wo es
Arbeit gibt – und nicht mehr zwangsläufig in seinem Heimatort nahe
dem Elternhaus. Eine Pflegereform ist ein gesellschaftpolitisches
Großprojekt und eine dringend zu erledigende Mammutaufgabe, an der
schon einige Regierungen gescheitert sind. Auch die aktuelle
Bundesregierung wird sich diesen Vorwurf gefallen lassen müssen.
Union und FDP hatten sich viel vorgenommen bei ihren
Koalitionsverhandlungen im Herbst 2009. Der Begriff der
Pflegebedürftigkeit sollte neu definiert, das strapazierte
Umlageverfahren durch eine Pflicht zur Kapitaldeckung ergänzt werden.
Beides ist bislang nicht geschehen. Nach zwei Jahren Streit zwischen
den Lagern gibt es jetzt nur einen Minimalkompromiss. Die Eckpunkte,
die Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) gestern vorgestellt hat,
sind vor allem eine Ansammlung wenig konkreter Absichtserklärungen.
Mit einer Erhöhung des Beitragssatzes um 0,1 Prozent können neue
Leistungen mit einem Volumen von 1,1 Milliarden Euro bereitgestellt
werden. Angesichts des riesigen Reformbedarfs ist das jedoch nur der
berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Es bleibt vorerst bei einem
Reförmchen. So wütend es machen kann, dass nun noch mehr Zeit
verspielt wird, so sehr ist nicht nur die Politik, sondern auch die
Gesellschaft gefragt. Pflege findet vor allem im Verborgenen statt.
In Heimen und Krankenhäusern oder innerhalb der eigenen vier Wände,
in denen sich meist die Töchter oder Fachkräfte kümmern. Die
Gesellschaft, so scheint es, will nicht viel zu tun haben mit Alter
und Gebrechlichkeit. Es wäre jedoch wichtig, dass wir uns den
Tatsachen stellen und das Thema als so selbstverständlich erachten,
wie es ist. Dazu gehört vor allem auch, dass die Pflegenden selbst
mehr Anerkennung erfahren. Schon heute arbeiten sie oft am Limit,
sind schlecht bezahlt und das Ansehen des Berufsstandes rangiert
trotz seiner absoluten Notwendigkeit eher in einem unteren Bereich.
Für sie muss sich Würde in erster Linie auf dem Gehaltsscheck
widerspiegeln. Nur das schafft Anreize für junge Menschen, künftig
diesen Beruf zu ergreifen. Die Bundesregierung muss sich beeilen. Die
Zeit drängt. Über kurz oder lang werden wir jedoch auch nicht um
einen Mentalitätswandel herumkommen, wenn „in Würde altern“ unser
Ziel sein soll.

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