Mittelbayerische Zeitung: Der Edathy-Komplex

Von Reinhard Zweigler, MZ

Noch vor reichlich einem Jahr galt Sebastian Edathy als
hoffnungsvoller SPD-Politiker, der sich zu Recht zu Höherem berufen
sah, als lediglich Ausschüsse im Bundestag zu leiten. Das hat der
Niedersachse, etwa im Fall des NSU-Untersuchungsausschusses, souverän
und beharrlich gemeistert. Einen Posten als Staatssekretär oder gar
Minister hielten seinerzeit viele für durchaus möglich. Welche
Abgründe sich jedoch hinter der schönen Fassade auftun würden, konnte
man damals noch nicht ahnen. Inzwischen ist Edathy politisch tot,
verbrannt, eine Rückkehr auf die Bundestagsbühne ausgeschlossen. Weil
er sich von einem höchst umstrittenen Unternehmen in Kanada höchst
umstrittene Bilder von mehr oder minder bekleideten Jungen kaufte,
geriet der prominente Abgeordnete ins Fadenkreuz der Ermittler.
Zuerst in Übersee und bald darauf in Deutschland. Dem Wiesbadener
Bundeskriminalamt wurden Listen mit den deutschen Kunden übermittelt.
Und an dieser Stelle bekommt der Fall Edathy das Zeug zu einer
veritablen Polit-Affäre. Im Verlauf der Edathy-Affäre musste ein
Minister der CSU, Hans-Peter Friedrich, seinen Hut nehmen, was bis
heute eine offene Wunde innerhalb der Koalition darstellt. Der Groll
der Christsozialen, dass einer der ihren der politischen Korrektheit
wegen „geopfert“ werden musste, viele tiefer involvierte SPD-Granden
dagegen ungeschoren davon kamen, tut weh und ist unvergessen. Der
Edathy-Komplex hat das Zeug zu einem Spaltpilz der Groß-Koalition.
Edathy selbst hat mit seinen gestrigen Schuldzuweisungen an die
Adresse der SPD-Spitzen – Thomas Oppermann, Frank-Walter Steinmeier,
Sigmar Gabriel und Christine Lambrecht – sie nicht nur als Mitwisser
der Ermittlungen gegen ihn, sondern als moralisch verkommen
abgestempelt. Diese Taktik, dass einer, der mutmaßlich Dreck am
Stecken hat, andere mit in den Sumpf ziehen will, ist keineswegs neu
oder originell. Sie könnte, vor allem im Fall von Fraktionschef
Oppermann, gleichwohl ihre Langzeitwirkung entfalten. Wenn das
Informieren über die Ermittlungen gegen Edathy an den Beschuldigten
nicht sogar strafrechtlich relevant ist. Das müssen jedoch
Staatsanwälte und Gerichte klären. Noch viel schwerer jedoch wiegen
die Vorwürfe gegen den einstigen BKA-Präsidenten, Jürgen Ziercke,
sowie Edathys Fraktionskollegen Michael Hartmann, ebenfalls
Innenpolitiker und damit ein innerparteilicher Konkurrent des
gestrauchelten Ex-Abgeordneten aus Niedersachsen. Ziercke war von
Edathy im Zuge des NSU-Ausschusses heftig attackiert worden. Dennoch
habe der BKA-Chef mit SPD-Parteibuch Sympathien für Edathy gehegt und
versucht, Schaden abzuwenden, indem er ihn über Hartmann informierte.
Das alles klingt nicht besonders glaubwürdig, auch wenn Edathy seine
Darstellung über den geführten SMS-Verkehr zu untermauern glaubt.
Zumindest wird sich der einst oberste Polizist der Republik
kritischen Fragen, vielleicht sogar Ermittlungen wegen des Verdachts
von Strafvereitelung im Amt stellen müssen. Zugleich setzte Edathy
gestern eloquent und flott auf die Mitleidsmasche. Dass in der
Öffentlichkeit, vor allem in einigen Medien, nicht immer korrekt mit
dem einer Straftat Verdächtigen umgegangen wurde, ist sicher richtig.
Und es bestehen immer noch viele offene Fragen. Es gab und gibt
Vorverurteilungen, Unterstellungen, Halbwahrheiten – teilweise gar
gespeist durch einzelne Justizvertreter. Doch all das ist einer
Demokratie mit einer vierten Gewalt, den Medien, unwürdig. Einige
wollten Edathy offenbar einfach nur „zur Strecke bringen“ wie einen
Hasen auf der Hubertusjagd. Zum Glück macht ein funktionierenden
Rechtsstaat solcher Art Jagdfieber, solchen Auswüchsen einen Strich
durch die Rechnung. Auch und erst Recht im Fall Edathy.

Pressekontakt:
Mittelbayerische Zeitung
Redaktion
Telefon: +49 941 / 207 6023
nachrichten@mittelbayerische.de