Bis Freitagmorgen war der Kurznachrichtendienst
Twitter in einem einzigen Land verboten: China. Weil die Regierung
Angst hat vor der Macht, welche die weltweit versandten
140-Zeichen-Botschaften entfalten können. Dass die Türkei sich nun
dem größten autokratischen Staat der Welt angeschlossen hat, ist ein
drastisches Indiz, dass Premier Recep Tayyip Erdogan die Demokratie
in seinem Land immer weiter aushöhlt. Vor allem aber ist das
Twitter-Verbot in der Türkei der nächste Ritterschlag für ein Medium,
das in nur acht Lebensjahren eine Macht entwickelt hat, die
Autokraten weltweit den Angstschweiß auf die Stirn treiben kann.
Twitter ist zu einem Sprachrohr für Menschen geworden, die um
Freiheit und Menschenrechte kämpfen. Immer wieder zeigt sich das: Vor
drei Jahren in der arabischen Welt, als sich die Menschen in Algier
oder Kairo via Twitter zu Massenprotesten verabredeten. Anfang dieses
Jahres in der Ukraine, wo die Demonstranten unter dem Hashtag
#Euromaidan ihre Impressionen von den blutigen Straßenschlachten in
Kiew in die Welt zwitscherten. Und 2013 in der Türkei, wo Zeitungen
und TV-Sender sich lange über die Proteste um den Taksim-Platz in
Istanbul ausschwiegen – und die Welt dennoch ständig live bei
#occupygezi dabei sein konnte. Kürze und Geschwindigkeit sind die
Stärken von Twitter. Der Tweet ist der Nachfahre des Flugblatts – nur
tausendfach schneller und millionenfach sichtbarer. Und während man
Flugblätter einstampfen, Druckmaschinen und Kopiergeräte vernichten
konnte, kann man Twitter nicht einfach aus der Welt schaffen. Auch
das zeigt die Twitter-Blockade des digitalen Ignoranten Erdogan. Über
VPN-Netzwerke oder via SMS zwitschert die Opposition munter weiter.
#TwitterisBlockedinTurkey ist am Freitag der beliebteste Hashtag –
weltweit. Twitter macht demokratieallergischen Mächtigen Angst, weil
Bürger Informationen dort ungefiltert weitergeben können. Anders als
Nachrichtenredaktionen lässt sich das Millionenheer der
Twitter-Gemeinde nicht kontrollieren. Ein schmerzhafter Stachel im
Fleisch von Menschen wie Erdogan, die sich am liebsten – frei nach
Brecht – ihr eigenes Volk wählen würden, für das Dinge wie
Meinungsfreiheit, Homosexualität oder Minderheitenrechte keine Rolle
spielen. Es ist kein Zufall, dass in der Türkei mit ihrer großteils
obrigkeitshörigen Medienlandschaft stolze 39 Prozent der
Internetnutzer auf Twitter aktiv ist. Und es ist kein Zufall, dass
unter den fünf twitteraffinsten Länder Europas mit Russland und
Italien zwei Staaten sind, in denen es um die Pressefreiheit nicht
allzu rosig bestellt ist. Vor allem dort, wo die traditionellen
Medien ihren demokratischen Auftrag nicht ausreichend erfüllen, kann
Twitter viel zur Demokratisierung beitragen. Überschätzen darf man
das Netzwerk freilich auch nicht. Selbstverständlich wird Twitter
allein nicht die Welt verändern. Selbstverständlich sind die
Beweggründe für Revolten seit Menschengedenken die gleichen: soziale
Schieflagen, Unfreiheit, Unterdrückung. Und selbstverständlich ist
Twitter nicht nur ein großes demokratisches Instrument – sondern auch
ein virtueller Schulhof, auf dem geltungsbedürftige Promis und
gelangweilte Teenies Belanglosigkeiten austauschen. Und natürlich
steckt hinter Twitter ein milliardenschwerer börsennotierter Konzern
mit wirtschaftlichen Interessen, den es kritisch zu beobachten gilt.
Twitter ist ein Medium, nicht mehr und nicht weniger. Aber eines mit
revolutionärer Macht. Wer es „entwurzeln“ will, hat keine Chance. Und
wer es ignoriert, läuft Gefahr, buchstäblich den Anschluss zu
verpassen.
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