Es ist schon ein Kreuz mit den ukrainischen
Aufständen. Stets scheint die Revolte im eisigen Kiewer Spätherbst
ihren Lauf nehmen zu wollen. So war es 2004, als die Revolutionäre in
Orange zu Weihnachten eine Neuwahl erzwangen. Neun Jahre später ist
es wieder die Adventszeit, in der sich das Volk gegen die Mächtigen
im Land auflehnt, die den Weg nach Westen verbauen. Was wie eine
Randbemerkung über das Wetter und die Jahreszeit klingt, ist von
existenzieller Bedeutung. Bei Frost oder Schneeregen ist es ungleich
schwieriger für die Opposition, Menschen zu Protesten auf die Straße
zu bringen, die dort womöglich wochenlang in Zelten ausharren sollen.
Der russische Präsident Wladimir Putin, den wenig so sehr schreckt
wie demokratische Revolutionen im Moskauer Einflussgebiet, gibt sich
deshalb gelassen. Der Aufstand im Nachbarland werde rechtzeitig vor
Weihnachten einfrieren, erklärt er. Die Feiertage sind ein weiteres
logistisches Problem für die Opposition. Über den Jahreswechsel bis
zum orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar ruht in der Ukraine
gewöhnlich das öffentliche Leben. Es ist unwahrscheinlich, dass sich
die Menschen in dieser Zeit weiter massenhaft mobilisieren lassen.
Die Revolution wird also, sollte sie nicht vorher erfolgreich sein,
zum Jahreswechsel eine Atempause einlegen müssen. Und ob sich
anschließend in der Januarkälte neues Feuer entfachen lässt, ist
ungewiss. All das sind sehr konkrete Erwägungen, die den Demokraten
in der Ukraine wenig Gutes verheißen. Allerdings gibt es auch
Faktoren, die hoffen lassen. Die wichtigste Frage lautet: Was hat der
autoritäre Staatschef Viktor Janukowitsch seinen Bürgern eigentlich
anzubieten? Die Antwort ist klar: wenig bis nichts. Es mag sein, dass
er mit russischer Hilfe den drohenden Staatsbankrott abwenden kann.
Doch was dann? Was ist seine Vision? Dass Janukowitsch sich
freiwillig der russischen Hoheit unterordnen will, glauben selbst
seine schärfsten Kritiker nicht. Am Ende bleibt den Herrschenden nur
ihre Herrschaft. Projekt: Machterhalt. Für die Ukraine, aber auch für
die EU wäre das verheerend. Der zweitgrößte Flächenstaat des
Kontinents würde sich im schlimmsten Fall zu einer Art „Nordkorea
light“ entwickeln. Das kann niemand zwischen Brüssel, Berlin und
Paris wollen. Erst recht will das niemand in Warschau oder im
litauischen Vilnius. Dort will man endlich die Rolle als östlicher
Puffer des Westens loswerden. Es war deshalb richtig, dass sich der
deutsche Außenminister bei seinem Besuch in Kiew mit Vertretern der
Opposition getroffen hat. „Endlich!“, möchte man hinzufügen. Die
Bundeskanzlerin hatte das Rendezvous mit der Revolution vergangene
Woche beim Vilnius-Gipfel noch vermieden. Erst recht darf sich Guido
Westerwelle geadelt fühlen, wenn ihn der russische Außenminister
Sergei Lawrow der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der
Ukraine bezichtigt. Das macht der Chefdiplomat gewöhnlich nur, wenn
es ans Eingemachte geht. Um nichts Geringeres geht es: Europa
befindet sich an einer Weggabelung der Geschichte. Scheitern die
ukrainischen Revolutionäre, friert der gesamte Osten Europas ein.
Wladimir Putins kalter Machtwille würde siegen. Das ist kein Modell,
das Zukunft hat, auch in Russland nicht. Aber es kann dauern, bis der
Koloss auf tönernen Füßen wieder einmal zusammenbricht. Was also tun?
Vielleicht sollte die EU der ukrainischen Opposition als Erstes
einige Heizstrahler auf den Unabhängigkeitsplatz in Kiew liefern. Das
klingt skurril, aber es wäre ein Zeichen: Ein Symbol der Wärme gegen
Janukowitschs kalte Krieger. Und was spräche gegen Solidaritätsreisen
europäischer Parlamentarier? Die regierungskritische Online-Zeitung
„Ukrainska Prawda“ hat sich vor gut einer Woche in „Evropejska
Prawda“ umbenannt – europäische Wahrheit. Auch das ist ein Symbol.
Wer als EU-Bürger auf den Schriftzug blickt, den kann eine seltsame
Mischung aus ukrainischer Hoffnung und europäischem Stolz
beschleichen.
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