Neue Westfälische (Bielefeld): Die neue Lust am Volksaufstand
Der Trend geht dagegen
NIC

Franzose möchte man manchmal sein. Etwa, wenn
sie einen Manager entführen, weil eine Werksschließung droht. Der
Franzose darf das, bei dem ist das nicht kriminell, sondern es gehört
zur Mentalität. Oder wenn 2,5 Millionen Menschen auf die Straße
gehen, um gegen Sarkozys Rentenreform zu demonstrieren. Was in der
Heimat der Revolution zu lautstarken Protesten führt, haben wir in
Deutschland mit müdem Achselzucken hingenommen – da darf man sich
nicht wundern, wenn es Politiker gibt, die bereits von der Rente mit
70 reden, ohne rot zu werden. Aber es tut sich was im Land der braven
Deutschen: Die rasante Zunahme von Protestinitiativen,
Demonstrationen und Bürgerentscheiden zeigt, dass wir uns auch nicht
mehr alles gefallen lassen wollen. Die Kampagnen schießen wie Pilze
aus dem Boden. Menschen, die noch nie in ihrem Leben auf einer Demo
waren, gehen plötzlich auf die Straße oder sammeln Unterschriften.
„Stuttgart 21“ ist überall – ob es um eine Umgehungsstraße, eine
Grundschulschließung, das Turbo-Abi, Theo Sarrazin oder längere
Akw-Laufzeiten geht. Doch woher kommt die neue Lust am Volksaufstand?
Politikwissenschaftler warnen bereits vor der
„Empörungsgesellschaft“, in der die demokratische Grundordnung durch
Populismus und Parteienverachtung beschädigt wird – früher haben sie
die Politikverdrossenheit beklagt. Umfragen bestätigen, dass auf die
Loyalität der Wähler immer weniger Verlass ist. Man könnte aber auch
sagen: Das Vertrauen ist hin. Das passiert, wenn man Parteiprogramme
vor der Wahl von jedem Dissens säubert und unpopuläre Themen hinter
verschlossene Türen vertagt. Die Geheimverträge zwischen Regierung
und Atomindustrie sind nur das jüngste Beispiel für eine Politik, von
der sich viele Menschen übergangen und verschaukelt fühlen. Sie
fragen sich, wer sie eigentlich regiert: Parlament oder Lobbygruppen?
Dass der Bürgerwille in einer parlamentarischen Demokratie nur alle
paar Jahre abgefragt wird, war für beide Seiten bequem, solange die
Probleme überschaubar und die Lösungen mehrheitsfähig waren. Als
guter Demokrat hatte man die Meinung der anderen zu akzeptieren und
sich den Entscheidungen zu fügen. Wo es aber keine klaren Mehrheiten
gibt, wächst die Unzufriedenheit. Im Internetzeitalter manifestiert
sie sich in Unterschriftenlisten und Petitionen, die über soziale
Netzwerke wie Facebook und Co. in Rekordzeiten mit den nötigen
Stimmen gefüllt werden – nie war es einfacher, der Politik Beine zu
machen. In der Schweiz bringt Facebook den Bundesrat so ins
Schwitzen, dass die Regierung prüft, die Hürden für Initiativen zu
erhöhen. Auch bei uns wird das Internet zunehmend zur
Unterschriftenmaschine – ob die Menschen dann tatsächlich den Weg aus
dem Netz auf die Straße finden, wird man spätestens am kommenden
Samstag in Berlin bei der Großdemo gegen die Akw-Laufzeitverlängerung
sehen. Für die Politiker mag es unbequem sein, aber unserer
Gesellschaft wird es nicht schaden, wenn die Bürger den Franzosen in
sich rauslassen.

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