Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Bundesverfassungsgericht nimmt sich Zeit für den Euro Machtfragen THOMAS SEIM

Übermorgen tritt der Bundestag zusammen. Er muss
über bis zu 100 Milliarden Euro Finanzhilfe für den spanischen
Bankenrettungsfonds entscheiden. Die Abgeordneten werden dafür aus
dem Urlaub gerufen. Es besteht Eilbedürftigkeit. Das
Bundesverfassungsgericht verkündet seine Entscheidung über den
Euro-Rettungsschirm im Eilverfahren – am 12. September. Viel Zeit
also. Interessant ist die Begründung des
Verfassungsgerichtspräsidenten Voßkuhle: Es wird eine vertiefte
summarische Prüfung geben. Ja, was nun: Eilverfahren oder vertiefte
Prüfung? Vieles spricht dafür, dass das Bundesverfassungsgericht
derzeit zurückerobert, was das Parlament an Machtteilung pauschal an
die Bundesregierung abgetreten hat. Die Richter lassen sich weder in
Sachzwängen fesseln noch zeitlich zu gefälligen Entscheidungen
nötigen. Man mag das als verfassungsrechtliche Spitzfindigkeit abtun,
aber tatsächlich sichern die Karlsruher Richter unter dem Vorsitz
ihres Präsidenten derzeit den Fortbestand der Gewaltenteilung in
Deutschland. Das tun die Richter nicht ohne Eigennutz. Schließlich
war ihre Bedeutung in den Zeiten großer politischer Mehrheiten
marginalisiert und auf existenzielle Fragen wie das Abtreibungsrecht
oder Menschenrechtsfragen wie das Asylrecht begrenzt worden. Jetzt
aber stehen die Richter mitten im aktuellen Streit um den Fortbestand
EU und damit im Begründungszusammenhang der zweiten deutschen
Demokratie. Das Thema ist nicht zu unterschätzen. Es war
Bundeskanzlerin Angela Merkel selbst mit der unsäglichen Formulierung
von der Alternativlosigkeit ihrer Politik, die Handlungszwänge
artikulierte, wo eine klärende und erklärende Debatte in der
deutschen Gesellschaft über die Zukunft in Europa nötig gewesen wäre:
Ja, wir wollen die Europäische Einheit mit grenzenlosem Frieden, der
Freiheit zu Reise, wirtschaftlichem Engagement, Wohlstand, weltweiter
Konkurrenzfähigkeit und politischem Diskurs – so hätte eine Antwort
lauten können. Ja, wir sind bereit, dafür Risiken zu übernehmen und
die wirtschaftliche Vorherrschaft in Europa nicht in politische
umzuwandeln. Das ist das Erfolgsmodell Europas, auf das schon Helmut
Kohl und Helmut Schmidt setzten. Merkel sieht sich offenbar nicht in
dieser Tradition. Sie hat die politische Gestaltung aus der Hand
gegeben zugunsten von Sachzwängen, die im Wesentlichen Beamte,
Finanzexperten und Bankenvorstände formulieren. Es mag pikant sein,
dass nun ausgerechnet der Verfassungsrichter – ein Lipper übrigens –
sich zum Verteidiger der Gewaltenteilung aufschwingt, der sich Merkel
verweigerte, als sie ihn vor ein paar Monaten noch zum
Staatsoberhaupt machen wollte. Aber es ist richtig. Und es zeigt vor
allem: Im Ringen um den richtigen Kurs unserer Demokratie hat sich
der Bundestag zwar bis auf weiteres verabschiedet. Die Zukunft von
Euro und Europäischer Union aber ist damit zu einer Machtfrage
geworden zwischen Verfassungsgericht und Bundesregierung. Gut, dass
es Karlsruhe gibt!

Pressekontakt:
Neue Westfälische
News Desk
Telefon: 0521 555 271
nachrichten@neue-westfaelische.de