Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Das Mutterland der Demokratie wählt am Sonntag Griechische Lehren THOMAS SEIM

Relevante Industrie gibt es nicht mehr,
Arbeitsplätze auch nicht. Die Schulden sind auf einem Niveau
angekommen, dass man nur noch die Zinsen bedienen kann. Sie
übersteigen mittlerweile das Vermögen, das den kompletten Besitz wie
Straßen, Gebäude und Büroausstattung umfasst. Die
Pro-Kopf-Verschuldung ist so hoch wie nirgendwo sonst. Gläubiger und
Kontrollorgane unterliegen fremder staatlicher Aufsicht. Die Rede ist
von – Oberhausen. Die Stadt im Ruhrgebiets ist so pleite wie
Griechenland, aber niemand diskutiert über den Ausschluss aus der
Euro-Zone, wie wir es bei Griechenland vor deren Wahlen am Wochenende
tun. Die Geduld der Deutschen schwindet, den Griechen weiter Geld
hinterher zu werfen. Wer verdient aber an der Krise? Griechenlands
inzwischen größte Gläubiger heißen Europäische Zentralbank,
Rettungsfonds und Internationaler Währungsfonds. Wer regiert
Griechenland also eigentlich? Es regiert die EU, stellvertretend.
Seit mindestens 2010. Sie trägt also längst Mitverantwortung. Wem
nutzt das Eingreifen der Geldgeber? Vorausgesetzt, der Euro überlebt,
dann hilft das vor allem jenen Staaten und Privatbanken, die viel
davon haben. Warum überhaupt Europa? Frieden – dieser Wert verliert
in den Augen vieler an Wert, die Krieg nicht aus eigener Anschauung
kennen. Freiheit – ist als abstrakter Wert weniger wichtig geworden,
seit man für 99 Euro in fast jede Hauptstadt Europas und für wenige
mehr in fast jedes Land der Erde fliegen kann. Außenhandel? Er
funktioniert ja – noch. Aber es ist erst knapp drei Jahre her, da
stürzten die Börsen und die Maschinen standen still. Niemand weiß,
was geschieht, wenn sich die Griechen bei der Wahl für einen
Anti-EU-Kurs entscheiden. Es gibt die Möglichkeit, dass das Land aus
dem Euro ausscheidet – und alles wird gut. Wahrscheinlicher ist, dass
es dann erst richtig schief geht: Die Euro-Zone könnte zerbrechen,
Deutschland zu eigener Währung zurückkehren. Mit dem Wohlstand wäre
es vorbei: Die starke deutsche Währung würde alle Exporte unbezahlbar
machen. Arbeitslosigkeit würde steigen, Verschuldung und Inflation
ebenfalls. Es drohte eine Lage wie Ende des 1920er Jahre. Diese
verheerende politische Aussicht hat Politiker aktuell bislang klug
handeln lassen. Sie begaben sich nicht in Alternativlosigkeit,
sondern garantierten Sparguthaben. Eine Grundlage gab es dafür nicht,
Geld auch nicht. Gewirkt hat es trotzdem. Weil es eine Haltung war.
Europa muss diese Haltung, diese Identität zurück gewinnen, diesen
Willen zur Führung. So wie Kohl und Mitterrand vor den Kriegsgräbern
von Verdun. So wie Merkel und Steinbrück bei der Sparbuch-Garantie.
Das muss Merkel bedenken, wenn sie heute sagt, man dürfe Deutschland
nicht überlasten. Haltung, Führung, Identität – das sind Werte, die
Europas Einheit in Freiheit und Frieden sichern. Geld, Kredite,
Schuldentilgung – das sind nur Werkzeuge. Es geht um Europa.
Griechenland gehört dazu.

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