Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Der alte Kontinent in der Krise Europas Präsidial-Kanzlerin THOMAS SEIM

Angela Merkel ist auf dem Höhepunkt ihrer Macht.
Mehr als drei Viertel der Deutschen finden ihre Arbeit gut.
Zeitgleich fällt das noch amtierende Staatsoberhaupt in die
Bedeutungslosigkeit. Merkel gibt den Deutschen alles, was sie
brauchen. Wir erleben nach der Großen Koalition von 2005 bis 2009 zum
zweiten Mal die Präsidial-Kanzlerin der demokratischen Republik.
Anders als damals allerdings füllt Angela Merkel ihre Rolle nicht mit
Moderation, sondern mit Führung. Sie regiert die Koalition mit der
FDP ohne jede Konkurrenz. Sie leitet ein Kabinett, das hinter ihr
verschwindet. Schon die Namen ihrer Minister – man kennt sie kaum.
Und sie führt die Europäische Union konkurrenzlos. Es ist
atemberaubend, wie sie nun auch noch versucht, die französischen
Präsidentschaftswahlen für Sarkozy, also für sich, zu entscheiden.
Merkel hat so klammheimlich verwirklicht, was der nionsfraktionschef
im Bundestag, Volker Kauder, vor wenigen Wochen tollpatschig so
formulierte: „In Europa wird wieder Deutsch gesprochen.“ Aber wohin
führt uns das? Ist so alles gut? Ist es nicht! In Europa wächst das
Befremden über eine Vorreiterrolle Deutschlands bei der Beherrschung
der Griechenland-Krise. Überhaupt wird unsere
De-facto-Vormachtstellung in der EU sehr kritisch beäugt. Das gilt
nicht nur für die Griechen, denen Deutschland wegen seiner rigiden
Haltung in der Schuldenkrise inzwischen mehr und mehr zum Feindbild
wird. Der Luxemburger Premier Jean-Claude Juncker, Christdemokrat und
exzellenter Kenner europäischer Befindlichkeiten, beklagt ebenfalls
einen übertrieben selbstbewussten Kurs der Kanzlerin und ärgert sich
darüber, dass Merkel gelegentlich als ihre Politik verkauft, was in
der von ihm geleiteten Euro-Gruppe als Konzept geboten und entwickelt
worden sei. Vor allem zu Krisenbeginn war der Luxemburger merklich
auf Distanz zu Merkel gegangen. Die Europäische Union beruht auf dem
politischen Konzept, dass die Großen sich kleiner machen, als sie
sind, um den Kleinen genug Selbstbewusstsein zu geben, ihnen zu
folgen. Wirtschaftlich ist die EU zwingend geboten. Heute noch steht
die EU für etwa 30 Prozent des Welthandels. In 30 Jahren werden es
nur noch etwa fünf Prozent sein. Europa spielt dann entweder
gemeinsam und geeint eine Rolle, oder es spielt gar keine Rolle mehr.
Die Einigung aber kann nur ein politisches Werk sein. Das nicht
zuletzt auf den Christdemokraten Helmut Kohl zurückgehende politische
Konzept Europas sieht indes weder Sparkommissar noch Sperrkonto für
Griechenland vor. Der Versuch der Deutschen, dank wirtschaftlicher
Stärke die Vorherrschaft einer deutschen Leitkultur durchzusetzen,
geht fehl. Er mag zu kurzfristigen Erfolgen bei der Beherrschung der
Krise führen. Er mag sogar die Beliebtheitskurve der Kanzlerin weiter
steigern. Ein Zukunftskonzept für das Friedenswerk EU allerdings ist
das nicht. Eine Präsidial-Kanzlerin wird der alte Kontinent nicht
dulden.

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