Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Über die brutale Gewalt inmitten der Zivilisation Tiefe Wurzeln HUBERTUS GÄRTNER

Das Hauptwerk des berühmten Soziologen Norbert
Elias trägt den Titel „Über den Prozess der Zivilisation“. Es ist im
Jahr 1939 erstmals erschienen. Untersucht wurde darin der Wandel der
Persönlichkeitsstrukturen in Westeuropa von etwa 800 bis 1900 nach
Christus. Elias zog noch ein positives Fazit zur Entwicklung des
Menschen. Weil die gegenseitigen Abhängigkeiten im Laufe der
Geschichte zunähmen, seien die Individuen immer stärker zur
Affektkontrolle und Selbstdisziplin gezwungen. Spontane emotionale
Impulse würden stärker im Zaum gehalten. Scham- und
Peinlichkeitsschwellen hätten sich entwickelt, die Gewaltbereitschaft
gegenüber Mitgliedern der eigenen Gesellschaft sei im Laufe der
Jahrhunderte deutlich gesunken. Norbert Elias ist 1990 gestorben. Wie
würde seine Meinung zur Gewalt wohl heute ausfallen, wenn er seine
Theorie einem Praxistest unterzöge? Das wissen wir nicht. Schon auf
den ersten Blick ist aber festzustellen, dass die Aggressionen auch
in der vermeintlich zivilisierten westlichen Welt keineswegs wirksam
unterdrückt, geschweige denn gestoppt sind. Nahezu täglich gibt es
Meldungen von gefährlichen Übergriffen und Attacken. Sei es in der U-
Bahn, auf den Sportplätzen, bei Feiern, in Familien oder anlässlich
von Demonstrationen: Schon aus geringfügigen Anlässen rasten die
Menschen heutzutage aus und fügen ihren Opfern fürchterliche, häufig
sogar tödliche Verletzungen zu. So sorgte in den vergangenen Tagen
ein Fall in Holland für Aufsehen, nachdem dort mehrere Jugendliche
bei einem Fußballspiel einen Linienrichter wegen einer angeblichen
Fehlentscheidung zu Tode geprügelt hatten. Ähnliche Exzesse, die
gottlob und nur durch Zufall nicht tödlich endeten, sind in der
jüngeren Vergangenheit auch in der Region im Zusammenhang mit
Sportereignissen mehrfach passiert. Im Bereich des Profifußballs
werden gerade auf höchster Ebene Konzepte gegen die Gewalt
diskutiert. Gerade im Zusammenhang mit dem Sport schlagen die
Emotionen besonders hoch. Es fehlt der gegenseitige Respekt, die
Hemmschwellen sind bei einigen Fans gesunken. Viele Bürger fordern
schnelles Handeln, härteres polizeiliches Durchgreifen und schärfere
Strafen. Zu befürchten ist aber, dass das allein nicht besonders viel
hilft. Denn die Gewalt hat nicht nur mit individuellen Schwächen,
Fehlern oder gar kriminellen Einstellungen und Haltungen zu tun. Sie
wurzelt auch tief in den gesellschaftlichen Verhältnissen.
Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Sinnleere, Medienkonsum,
Individualisierung, Zerfall von Bindungen – all das erzeugt vor allem
bei vielen jungen Menschen Frustrationen und Aggressionen. Für die
Täter soll und kann das zwar kein Freibrief sein. Aber es ist eine
Erklärung dafür, dass sich inmitten der Zivilisation viel zu oft
barbarische Dinge abspielen. Die moderne Gesellschaft muss mehr in
Bildung, Verteilungsgerechtigkeit, Integration und Prävention
investieren. Ansonsten könnten am Ende die destruktiven Elemente
obsiegen.

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