Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Weltfrauentag
Existenzkrise
ANNEKE QUASDORF

Happy Birthday, Weltfrauentag. Seit 100 Jahren
erinnerst du uns nun schon daran, dass es äußerst schlecht bestellt
ist um die Gleichberechtigung der Frauen. Zumindest war das mal dein
Zweck. Doch seit einiger Zeit zeigst du uns etwas ganz anderes:
nämlich dass der Feminismus in Deutschland eine neue Existenzkrise
hat. Er ist jetzt nicht mehr nur uncool. Viele Frauen wissen einfach
nichts mehr damit anzufangen. Weltfrauenwas? Völlig
selbstverständlich profitieren wir von den Anstrengungen unserer
Vorkämpferinnen, besuchen weiterführende Schulen und Universitäten,
machen unseren Doktor und leisten Waffendienst – wenn wir das denn
wollen. Um zu merken, dass mit unserer Position in der Gesellschaft
immer noch nicht alles in Ordnung ist, müssen wir uns durch die
Prozentzahlen und Statistiken der neuesten Studien über Gehälter und
Führungspositionen kämpfen. Oder genauestens das Motto lesen, das die
Vereinten Nationen dem diesjährigen Weltfrauentag verpasst haben:
„Gleicher Zugang zu Bildung, Ausbildung, Wissenschaft und Technik.
Wege zu menschenwürdiger Arbeit für Frauen.“ Ein sperriger Trumm aus
Phrasen, die uns nicht mehr viel sagen, aber dafür wenigstens eines
sind: politisch korrekt. Vor 100 Jahren war das anders. „Heraus mit
dem Frauenwahlrecht!“, forderten die Sozialistinnen am ersten
Weltfrauentag kurz und bündig. Heute wissen die meisten mit den
Frauen dieser ersten Stunde, Namen wie Clara Zetkin, Gertrud Bäumer
und Helene Lange, nichts mehr anzufangen. Auf der einen Seite ist
diese Entwicklung gar nicht so schlecht. Denn wer Bildung, Wahlrecht
und Erwerbstätigkeit nicht als Privileg, sondern als
Selbstverständlichkeit empfindet, tritt selbstbewusst auf, fordert
seine Rechte überzeugend ein und lässt sich nicht so leicht
verunsichern oder unterbuttern. Auf der anderen Seite birgt diese
Unbekümmertheit aber auch ein großes Risiko. Denn nur weil viele
Frauen gar nicht mehr wissen, wovon sie sich emanzipieren sollen,
heißt das nicht, dass es nichts mehr gibt, woran wir noch arbeiten
müssen. Und dazu müssen wir den Blick nicht auf andere Länder
richten. Den öffentlichen Raum haben unsere Vorkämpferinnen in den
vergangenen 100 Jahren gründlich erobert. Was zur Folge hat, dass
sich die geschlechterpolitischen Debatten überwiegend in
Führungsetagen hochgeschraubt haben. Es wird also Zeit, dass wir den
Blick mal wieder nach unten richten, auf jene Frauen, die in der
öffentlichen Diskussion zunehmend unter den Bürotisch fallen. Die
sorgen sich weniger darum, ob sie sich irgendwann mal in einem
Managerstuhl zurücklehnen können. Oder ob ihr Gehalt zu 100 Prozent
dem des männlichen Kollegen entspricht. Sondern darum, wie sie mit
zwei kleinen Kindern und ohne Mann an ihrer Seite überhaupt ihre
Brötchen verdienen können. Für die müssen wir gründlich die Trommel
rühren. Und das nicht nur am Weltfrauentag.

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