Neue Westfälische (Bielefeld): Kommentar: Zehn Jahre Agenda 2010 Fortsetzung notwendig ALEXANDRA JACOBSON, BERLIN

Vor zehn Jahren hielt der SPD-Kanzler Gerhard
Schröder seine Rede zur Agenda 2010. Es ging um „Fordern und
Fördern“, um mehr Eigenverantwortung und weniger staatliche
Leistungen. Schröder löste ein Erdbeben aus, das die Genossen bis
heute umtreibt. Manche in der SPD würden das Jubiläum am liebsten
unter den Teppich kehren. So halbierte die Agenda-Politik nicht nur
die SPD-Mitgliederzahl, sondern rief auch noch eine dunkelrote
Konkurrenz in Form der Linkspartei ins Leben. Zehn Jahre danach gibt
es allen Grund für eine nüchterne Bilanz: Auch wenn nicht alles
richtig war an der Agenda 2010, handelt es sich im Kern um eine
Erfolgsgeschichte. So sank die Zahl der Langzeitarbeitslosen, also
der Hartz-IV-Empfänger, von 2,5 auf eine Million Menschen. Die
landläufige Ansicht, dass die Agenda 2010 die Armut erst richtig
angefacht habe, stimmt nicht. Die Armut in Deutschland war in der
Zeit bis 2005 größer als heute. Schließlich war ein wesentlicher
Grund für die Sozialreformen, dass die Arbeitslosigkeit jedes Jahr um
etwa 500.000 Neuzugänge wuchs und kurz vor der Agenda auf über fünf
Millionen Menschen angestiegen war. Deutschland galt bis 2003 als der
„kranke Mann Europas“, als einer der schlimmsten Sanierungsfälle.
Hätte Gerhard Schröder nicht gegengesteuert, wären die sozialen
Sicherungssysteme irgendwann einmal kollabiert. Wer umfangreiche
Reformen auf den Weg bringt, kann nicht alle Auswirkungen bis ins
Letzte vorhersehen. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass es etwa
zu einem massenhaften Missbrauch der Leiharbeit kommen würde. Und
dass sich der Niedriglohnsektor derartig stark ausbreitete, gehört
auch zu den negativen Folgen. Notwendig sind also Nachbesserungen,
eine Fortsetzung der Agenda 2010. Der Mindestlohn steht dabei ganz
oben auf der Liste. Eine Reformpolitik müsste heute andere
Schwerpunkte setzen als vor zehn Jahren. Noch immer sind die
Unqualifizierten am stärksten von Armut bedroht, die
Alleinerziehenden und die Menschen mit Migrationshintergrund.
Bildung, Integration, Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind die
Themen, bei denen sich zu wenig bewegt hat. Dass Deutschland heute
die Lokomotive in Europa ist, hat aber keineswegs nur mit der
Agenda-Politik zu tun, sondern auch mit der Industrie und einem
innovativen Mittelstand. Und was die Unternehmer momentan vorrangig
bedrückt, ist die verkorkste Umsetzung der Energiewende. Bekommt die
Bundesregierung diese Wende nicht in den Griff, könnte der Vorsprung,
den sich Deutschland erarbeitet hat, wieder in Luft auflösen. Es gibt
viel zu tun. CDU, CSU und FDP preisen gerne die Schröder“sche Agenda
2010, haben aber in den vergangenen Regierungsjahren keine
innenpolitische Leistung zustande gebracht, die damit auch nur
annähernd zu vergleichen wäre. Die Sozialdemokraten hätten allen
Grund, selbstbewusst auf das Vollbrachte hinzuweisen – allerdings
ohne Verklärung der Fehler und mit der nüchternen Distanz von zehn
Jahren.

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