Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTARE
Veränderung in der Parteienlandschaft
Explosiv

Die politische Landschaft in Deutschland ist im
Umbruch. Nachdem die SPD bei den letzten Bundestagwahlen lediglich
23,0 Prozent erhielt und damit ihr schlechtestes Ergebnis in der
bundesdeutschen Geschichte einfuhr, droht jetzt auch der CDU, die
einst konstant um die 45 Prozent erhalten hatte und vor einem Jahr
wenigstens noch 33,8 Prozent erhielt, vergleichbares Ungemach. Droht
ein Ende der Volksparteien? Wir müssen zwei Großtendenzen in unserer
Gesellschaft konstatieren. Da ist zum einen die Individualisierung,
zum anderen die Pluralisierung der Lebensstile. Beide Tendenzen
führen zu einem großen gesellschaftlichen Umbruch, den auch andere
Großorganisationen wie die Kirchen oder die Gewerkschaften erfahren.
Die Parteien waren früher Ausdruck spezifischer Milieus – etwa des
proletarischen, des bürgerlichen oder des ländlichen Milieus. Diese
Kontinuität haben sie nicht mehr, weil ihre klassischen Milieus
weggebrochen sind, etwa der SPD ein Teil der Industriearbeiterschaft,
die zudem rein anteilmäßig immer weniger wird. Die Individualisierung
hat auch für das Vereinswesen Konsequenzen: Viele engagieren sich
nicht mehr in einem Sportverein, sie haben ja die „Mucki-Bude“ um die
Ecke. Die Pluralisierung der Lebensstile zeigt sich in einer immer
bunter werdenden Vielfalt menschlichen Zusammenlebens, etwa der immer
mehr akzeptierten gleichgeschlechtlichen Lebensweisen. Gleichzeitig
lässt die Bindekraft politischer Parteien nach. Hatten wir allein in
Westdeutschland über 2,5 Millionen Parteimitglieder, sind es jetzt im
größer gewordenen Deutschland gerade einmal 1,4 Millionen – mit einer
starken Tendenz der Überalterung der herkömmlichen Parteien. Die
Wähler werden immer „volatiler“, viele wählen heute so, das nächste
Mal anders oder gar nicht. Die Wahlforschung nennt drei Gründe, warum
ein Wähler eine bestimmte Partei wählt. Da ist zunächst der
„Markenkern“ – das Alleinstellungsmerkmal im Verhältnis zu den
Konkurrenzparteien. Je „ideologischer“ die politische
Auseinandersetzung – etwa zur Zeit des Ost-West-Konfliktes – war,
umso wichtiger war dieser Faktor. Doch hat sich in den letzten
Jahrzehnten ein zweiter Faktor immer mehr in den Vordergrund
geschoben: Die egoistischen „Interessen“ des Wahlbürgers, der sich
von einer Partei die Vertretung spezifischer Interessen erhofft. Der
dritte Faktor ist auf die Persönlichkeit des Spitzenkandidaten
gerichtet, der meistens überschätzt wird, bei knappen
Mehrheitsverhältnissen jedoch ausschlaggebend ist. Wir haben
schließlich einen breiten Politikunmut selbst in der Mitte der
Gesellschaft. Die Politik ist in den Augen vieler Bürger nicht mehr
in der Lage, sie vor den Unbilden der Globalisierung zu schützen. Auf
sei macht die Politik den Eindruck, dass die bestenfalls reagiert –
aber nicht agiert, etwa in Fragen der Migrationspolitik. Es gibt ein
dumpfes, gleichwohl explosives Gemisch aus Politikerverdrossenheit
und Resignation. Nach einer neuesten Umfrage liegt die Zustimmung zur
Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, nur bei 46,1
Prozent. Die demokratischen Parteien von links bis rechts müssen sich
etwas einfallen lassen, um Vertrauen zurückzugewinnen.

Unser Gastkommentator ist Politikwissenschaftler und politischer
Publizist, u.a. Autor von Biografien über Horst Köhler und Angela
Merkel.

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