Neue Westfälische (Bielefeld): Morgen wird der neue Bundespräsident gewählt Gaucks Freiheit THOMAS SEIM

Wir Deutschen können wieder einmal glücklich
sein: Wir haben Konsens. Es ist so lange her, dass wir uns über einen
Bundespräsidenten freuen durften, der als gemeinsamer Kandidat der
breiten demokratischen Mitte gelten durfte, dass allein diese
Qualität Joachim Gauck schon zu etwas Besonderem machen könnte. Mit
dem Wechsel im Amt von Wulff zu Gauck wechselt auch das Thema der
deutschen Staatsspitze von der Integration zur Freiheit. Das ist
bedauerlich und zukunftsweisend zugleich. Bedauerlich, weil die
Fragen der Integration in unserem Land noch nicht so weit beantwortet
sind, dass man diese Frage als erledigt betrachten dürfte. Die
Freiheit ist das größere Thema und zukunftsweisend. Sie hat die
Qualität, eine neue politische Epoche zu definieren. Insofern ist sie
gut gewählt. Ein leichtes Thema indes wird es nicht. Weder für das
neue Staatsoberhaupt, noch für die Bürger und Bürgerinnen dieses
Landes. Nach wie vor stehen sich in Deutschland große Gruppen
gegenüber, die den Freiheitsbegriff jeweils für sich reklamieren und
nur für sich definieren. Positiv beschreiben ihn jene, die ihn als
Freiheit zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verstehen. Eher
skeptisch beurteilen ihn jene, die eher die Freiheit von Armut, Not
und Unterdrückung garantiert sehen wollen. Zwischen diesen beiden
Lagern lauern viele Fallen. So mutig beispielsweise Angela Merkel in
Anlehnung an das „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ des SPD-Kanzlers
Willy Brandt den Titel ihrer Regierungserklärung 2009 „Wir wollen
mehr Freiheit wagen“ formulierte, so schnell sah sie sich auch in die
Ecke gedrängt und verband ihn mit der Frage nach Gerechtigkeit. Das
wiederum wurde ihr gleich zu Beginn ihrer neuen Regierung als
Schwäche ausgelegt. In diesem Spannungsfeld wird sich nun auch der
neue Bundespräsident Joachim Gauck zurechtfinden müssen. Sein
Hauptthema ist die Freiheit und damit ist jene gemeint, die sich auf
die Befreiung vom System der Unfreiheit bezieht. Gauck zieht aus
seinen Erfahrungen Sendungsbewusstsein, spricht von einem
pädagogischen Eros, den er in sich trage, damit die Leute etwas
kapieren. Aber das allein wird nicht zum Erfolg führen. Er wird sich
auch jenem alltäglichen Freiheitsbegriff nähern müssen, den
Sozialhilfe-Empfänger und Mini-Jobber für sich reklamieren wollen und
werden. Nur dann wird deren Skepsis vor der Freiheit einem auf
Freiheit gegründeten Optimismus weichen. Wenn dem neuen Präsidenten
das gelingt, wenn er mit seinem Ideal und seiner Rede die
Freiheitsdebatte in Deutschland auf das Niveau des Streits um die
soziale Gerechtigkeit heben kann, dann könnte daraus ein epochales
Wirken entstehen, das die Herausforderung der Integration gleich mit
besteht. Dann wird es eine besondere Präsidentschaft sein. Und ein
besonderer Präsident. Man wünscht es ihm. Und sich.

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