Chile feiert die Rettung der 33 Bergleute als
Volksfest – und die ganze Welt feiert mit. „Chi Chi Chi – Le Le Le“,
hallt das euphorische Stakkato aus San José hinaus in die Welt. Der
Ruf wird von Fernsehkameras aufgezeichnet, getwittert und im Internet
verbreitet, Liveticker senden minütlich die bewegenden Szenen, die
sich in der Atacama-Wüste abspielen. Die Rettung der Männer ist
spektakulär, aber ein Wunder ist sie nicht – auch kein modernes, wie
Guido Westerwelle sagt. Wunder geschehen im Kopf, nicht unter Tage.
Dort geht es knallhart zu, wie wir mittlerweile wissen. Es ist auch
kein Wunder, dass die Männer überlebt haben, sondern das Resultat
ihrer eisernen Disziplin. Nüchtern betrachtet ist die Rettung das
Ende eines Dramas, einer von menschlichem Versagen, Ignoranz und
wirtschaftlichem Kalkül ausgelösten Katastrophe, die sich jeden Tag
wiederholen kann. Die Euphorie über das glückliche Ende des
Grubenunglücks darf das Schicksal der vielen Kumpel, die tot oder
schwer verletzt aus maroden Minen weltweit kommen, deshalb nicht
verdrängen. „Es ist unglaublich, dass wir mehr als 600 Meter unter
der Erde waren und sie in der Lage waren, uns zu retten“, sagte
Medienliebling Mario Sepúlveda in seinem ersten Interview. Und dann
nutzte der als „Star wider Willen“ gefeierte Bergmann seine Chance,
auf die Arbeitsbedingungen in den chilenischen Minen aufmerksam zu
machen. Gesetzliche Standards werden selten eingehalten, häufig
fehlen Schutzräume und Fluchtwege, die hygienischen Verhältnisse
ähneln nicht selten denen vor 100 Jahren. Experten zufolge sollen
mehr als 200 chilenische Bergbaubetriebe ohne minimale
Sicherheitsvorkehrungen operieren. Immer offensichtlicher wird das
Sicherheitsproblem in Chiles Minensektor, der nach dem Grubenunglück
in der Mine San José mehr denn je in den Fokus der Öffentlichkeit
gerückt ist. Denn das Drama nahm seinen Lauf, als die verschütteten
Bergleute nur wegen einer fehlenden Leiter am Lüftungsschacht nicht
rechtzeitig ins Freie gelangen konnten. Chile ist aus dem Bergbau
entstanden. Auf ihrer Suche nach Gold zogen die Konquistadoren durch
die Wüste, gründeten die ersten Städte und schickten Männer tief
unter die Erde, wo sie ihr Leben bald auch für Eisen, Kupfer, Kohle
und Salpeter aufs Spiel setzen sollten. In der 150-jährige
Bergbaugeschichte des heute größten Kupferproduzenten der Welt sind
die Minen zu einem Sinnbild für Wohlstand auf der einen Seite,
Unterdrückung und Ausbeutung auf der anderen geworden. Es heißt, wer
in Chile in einen Stollen fährt, weiß, dass der Tod jedes Mal
mitfährt. Die Männer von San José sind ihm noch einmal von der
Schippe gesprungen. Sie haben Dunkelheit, Angst und Verzweiflung
ertragen – und stehen jetzt womöglich auch noch vor dem finanziellen
Ruin, weil der Minenbetreiber Pleite ist. Bleibt zu wünschen, dass
die Erinnerung an das Erlebte nicht zum Trauma für die Bergleute
wird, deren langer Weg zurück ins Leben gerade erst begonnen hat.
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