NRZ: Kirche und Kritik – ein Kommentar von JAN JESSEN

Es gibt, insofern haben der Kölner Kardinal Meisner
und der Chef der Glaubenskongregation im Vatikan, Erzbischof Müller,
recht, eine der katholischen Kirche zunehmend kritisch eingestellte
Öffentlichkeit. Eine „Katholikenphobie“ oder gar eine
„Pogromstimmung“ gibt es aber nicht. Solche Begriffe sind verfehlt
und geschmacklos. Von den konservativen Lautsprechern der
katholischen Kirche ist man derlei gewohnt. Meisner vergleicht
Abtreibung mit dem Holocaust und Atheisten mit Nationalsozialisten.
Müller nennt Reformgruppen innerhalb der Kirche „parasitäre“
Existenzen. Wer derart mit dem Holzhammer wütet, sollte Kritik
aushalten können, ohne sich gleich in die Opferrolle zu flüchten.
Realität ist: Der Glaube schwindet in den hyperaufgeklärten und
entwerteten westlichen Gesellschaften und mit ihm die Autorität der
Kirche. Aber: Die katholische Kirche hat es nicht deswegen schwer,
weil die Gesellschaft generell kirchenfeindlicher wird. Sie hat es
deswegen schwer, weil sie Meinungen vertritt, die schon lange aus der
Zeit gefallen sind. Oder anders formuliert: Weil sie sich nicht so
geschmeidig an den Zeitgeist anpasst wie die evangelische Kirche (die
ihren Glauben aber auch nicht erfolgreicher verbreitet). Das muss sie
auch nicht. Aber wer aneckt, tut sich und anderen weh. Die
katholische Kirche hat es auch schwer, weil sie nicht auf ihre eigene
Basis hört, die immer und immer wieder vergeblich Reformen
einfordert. Demokratische Gesellschaften haben Probleme mit
zentralistisch und autoritär geführten Organisationen. Das ist auch
gut so. Und die katholische Kirche hat es schwer, weil sie hohe
moralische Ansprüche formuliert und deshalb besonders tief fällt,
wenn sie diesen selbst nicht Genüge tut; das gilt für vertuschte
Missbrauchsfälle genauso wie für die Ablehnung eines
Vergewaltigungsopfers durch Ärzte an katholischen Kliniken. Kirche
kann nur mit und in der Gesellschaft bestehen, nicht gegen sie. Dazu
muss Kirche sich öffnen und Angebote machen, die angenommen werden
können. Darüber sollten Meisner und Ludwig nachdenken – und sich
nicht in der Schmollecke verziehen.

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