NRZ: Wir müssen dagegen halten – ein Kommentar von JAN JESSEN

Vor vielen Jahren schrieb ein namhafter bürgerlicher
Historiker einen Essay mit dem Titel „Unsere Aussichten“. In diesem
Essay diagnostizierte der Mann: Die Presse schreibe völlig an der
öffentlichen Meinung vorbei. Das Volk habe die Nase voll von
Gutmenschen. Und er empörte sich über die mangelnde
Integrationsbereitschaft von Zuwanderern, die einer fremden Religion
angehörten; die sogar forderten, dass in deutschen Schulen Kreuze
abgehängt und ihre religiösen Feste gefeiert werden sollten. Der
Historiker hieß Heinrich von Treitschke. Sein von
Überfremdungsängsten geprägter Essay von 1879 gipfelte in dem Satz:
„Die Juden sind unser Unglück!“ – und er machte damit den politischen
Antisemitismus salonfähig.

1879 ist nicht 2014. Aber die Argumente derjenigen, die heute in
Dresden und andernorts gegen die angebliche Gefahr der Islamisierung
des Abendlandes und gegen Überfremdung auf die Straße gehen, ähneln
auf eine grausige Art jenen von Treitschkes und jener Hetzer, die
nach ihm kamen.

Natürlich ist es grotesk, wenn Menschen unter der Führung eines
Inländers mit krimineller Vergangenheit gegen kriminelle Ausländer
demonstrieren; oder wenn Ostdeutsche gegen Transferleistungen an
Zuwanderer protestieren und dabei über Straßen laufen, die nur wegen
milliardenschwerer Transferleistungen aus dem Westen gebaut werden
konnten; oder wenn sie in einem Bundesland wie Sachsen vor der
Islamisierung des Abendlands warnen, in dem gerade einmal 0,7 Prozent
der Einwohner Muslime sind.

Aber es wäre fatal, diese Proteste nur ins Lächerliche zu ziehen.
Genauso, wie es falsch ist, den Demonstranten aus parteipolitischen
Gründen Verständnis zu signalisieren. Man muss diese Proteste ernst
nehmen, weil sie das Zeug haben, Jahre der mühevollen – nicht immer
von Erfolg gekrönten – Integrationsarbeit zunichte zu machen. Man
muss argumentativ dagegen halten, weil diese Bewegung Mauern in den
Köpfen in einem Land aufbaut, das erst vor kurzem stolz das
25-jährige Jubiläum des Mauerfalls gefeiert hat.

Das Selbstbild einer Minderheit wird auch immer von den
Vorurteilen der Mehrheit geprägt. Wer die pauschale Verdammung einer
Religion oder ganzer Menschengruppen widerspruchslos zulässt, nimmt
Radikalisierung in Kauf. In Deutschland setzt sich gerade ein
Teufelskreis in Bewegung, langsam noch und aufhaltbar. Einheimische
und Zuwanderer, Christen und Muslime, Zivilgesellschaft und Politik
sind gefordert, in diesen Prozess einzugreifen. Es geht um nichts
anderes als den sozialen Frieden in Deutschland – und darum, den
unheilvollen Anfängen zu wehren.

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