Ostsee-Zeitung: Kommentar zu Lichtenhagen

Rostock, heute vor zwanzig Jahren: Vor dem
Sonnenblumenhaus im Stadtteil Lichtenhagen rottet sich ein rechter
Mob zusammen, um Ausländer zu verjagen, die in Deutschland eigentlich
Schutz und Hilfe gesucht hatten. Die Stimmung ist aggressiv, Gewalt
liegt in der Luft. Etwa 150 jugendliche Neonazis versuchen, die
überfüllte Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber des Landes
Mecklenburg-Vorpommern zu stürmen, schleudern Steine und
Molotow-Cocktails auf das Heim – und auf die Handvoll Polizisten, die
versuchen, die Menschen in dem Gebäude mit ihren Leibern zu schützen.
Verstärkung lässt lange auf sich warten. Bald brennen Autos, fliegen
Leuchtraketen. Und mehr als tausend brave Bürger stehen drum herum
und applaudieren, finden offenbar ganz gut, was da passiert, geben
den rechten Angreifern Deckung und Rückhalt. So begannen mitten in
einem Wohngebiet die schwersten ausländerfeindlichen Ausschreitungen
der deutschen Nachkriegsgeschichte, die vier Tage lang andauerten und
weltweit für Abscheu und Entsetzen sorgten. Vier Tage entfesselter
Gewalt, geprägt von Fremdenhass, Versagen der Polizei und hilflosen
Politiker-Reaktionen. Sie endeten damit, dass die Fremden aus der
Stadt entfernt wurden, während die politisch Verantwortlichen
gebetsmühlenartig den Image-Schaden beklagten, anstatt nach den
Opfern zu fragen. Was für eine Schande! In Amerika macht das Wort
„rostocking“ die Runde. In Deutschland schaffen Union, FDP und SPD
wenig später das Grundrecht auf Asyl ab. Die Schande von
Rostock-Lichtenhagen steht zweifellos für eine Vielzahl
rechtsradikaler, rassistischer Übergriffe und Anschläge jener Zeit in
ganz Deutschland. Und der Vorwurf, dass die Staatsmacht nicht
energisch dagegen vorging, auf dem rechten Auge blind war, muss nach
den Erkenntnissen über die Mordserie der Neonazi-Terrorzelle NSU wohl
bekräftigt werden. Deshalb ist es richtig, dass die Zivilgesellschaft
den Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus nicht dem Staat
allein überlassen darf. Lichtenhagen lehrt aber auch, dass Staat und
Politik all jene Bürger, die sich den Neonazis entgegenstellen, nicht
allein lassen dürfen.

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Ostsee-Zeitung
Jan-Peter Schröder
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