Schwäbische Zeitung: Die Freiheit des Bundespräsidenten – Leitartikel

Bisweilen ist es für Nicht-Juristen schwer zu
begreifen, zu akzeptieren, was sich in den Gehirnwindungen der
Fachleute abspielt, bevor sie zu einem Urteil finden. Es gibt aber
auch erfreulich klare, einfache Entscheidungen. Zu denen zählt, was
die Bundesverfassungsrichter jetzt zum politischen Spielraum, zur
Freiheit des Wortes eines Bundespräsidenten zu sagen hatten. Das
Urteil ist wichtig im konkret verhandelten Fall, es hat aber auch
generelle Bedeutung für die Rolle des deutschen Staatsoberhaupts.

Zum konkreten Fall: Joachim Gauck hat NPD-Anhänger vor Schülern
„Spinner“ genannt. Es war, das steht jetzt höchstrichterlich fest,
sein gutes Recht. Mit der Verpflichtung zu parteipolitischer
Neutralität konnte nie gemeint sein, dass ein Bundespräsident krasse
Fehlentwicklungen in der Gesellschaft nicht beim Namen nennen darf.
Es konnte auch nicht gemeint sein, dass die Umtriebe einer
verfassungsfeindlichen Partei, deren Verbot seit Jahren diskutiert
wird, nicht kommentiert werden dürfen. Anzumerken wäre allenfalls,
dass Gauck hier noch die mildeste Form einer Qualifizierung für den
menschenfeindlichen Mob gewählt hat.

Unpolitische Präsidenten waren auch die Vorgänger Joachim Gaucks
nicht. Aber noch mehr als ihnen ist dem Ostdeutschen die Freiheit des
in Worte gefassten Gedankens ein inneres Bedürfnis – auch wenn es um
aktuelle politische Entwicklungen und Probleme geht. Das hat er
zuletzt nachdrücklich bei seinem Staatsbesuch in der Türkei unter
Beweis gestellt. Seine Art der Amtsführung ist durchaus ein
Balanceakt. Er muss über dem parteipolitischen Gezänk stehen, er darf
sich nicht auf die eine oder andere Seite schlagen, er muss – in
diesem Sinne – neutral sein. Aber wenn es um Grundsätzliches geht,
dann darf und soll er sich zu Wort melden. Die Verfassungsrichter
haben dies nicht nur bestätigt, man kann das Urteil sogar als
Ermunterung zur Einmischung lesen. Im medialen tagespolitischen
Getöse ist es vielleicht wichtiger als früher, dass ein
Bundespräsident das Format hat, Richtiges zu sagen. Gauck hat es.

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