Schwäbische Zeitung: Europa blickt nach Karlsruhe – Leitartikel

Das Bundesverfassungsgericht trifft keine
politischen Entscheidungen. Es ist aber von Zeit zu Zeit gezwungen,
über das Politische zu entscheiden. So hat es sinngemäß der
amtierende Präsident des höchsten deutschen Gerichts, Andreas
Voßkuhle, formuliert. Und was wie Haarspalterei anmutet, verdeutlicht
in Wirklichkeit den extrem schmalen Grat zwischen Politikgestaltung
und Verfassungsrechtsprechung, auf dem er und seine Richterkollegen
sich oft bewegen. Seit gestern sind sie mit einer der
folgenschwersten Entscheidungen in der Geschichte des Gerichts
befasst. Es ist keinesfalls übertrieben zu sagen: Das ganze
politische Europa blickt mit Hoffen beziehungsweise Bangen nach
Karlsruhe. Es geht um den Fiskalpakt und den Europäischen
Rettungsschirm (ESM).

Die Situation hat auf den ersten Blick skurrile Züge: Die kleinen
Machtzirkel aus europäischen Regierungschefs, die seit Monaten ihre
einsamen Beschlüsse über die Zukunft der Europäer treffen – sehr zum
Unbehagen der Verfassungsrichter -, sind nun ersetzt durch den
kleinen Machtzirkel ebendieser Verfassungsrichter. Nur: Die halten
sich an die Spielregeln, können gar nicht anders. Sie müssen abwägen
und entscheiden, ob das Demokratieprinzip gefährdet oder schon
verletzt ist, falls der Bundespräsident mit seiner Unterschrift ESM
und Fiskalpakt absegnet. Dies wäre beispielsweise der Fall, sollte
durch die völkerrechtlich bindenden Verträge das Königsrecht des
Parlaments, über den Haushalt zu bestimmen, dauerhaft eingeschränkt
oder gar abgeschafft sein.

Exakt diese Gefahr sehen die Kläger, weil die irrwitzigen Summen,
mit denen Deutschland haftet, eine haushaltspolitische Entmachtung
auf viele Jahre hinaus bewirken könnten. Die Bundesregierung wiederum
sieht den Euro, die Europäische Union, gar die Idee Europa in Gefahr,
sollten ESM und Fiskalpakt von Karlsruhe gestoppt werden. Beide
Argumente nehmen die Verfassungsrichter ernst. Ob sie das Problem
salomonisch lösen können, erscheint sehr zweifelhaft.

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