Wir haben eine Leidenschaft fürs Leiden. Der
Deutsche ist ein Hiob auf der Suche nach Aussatz, schreibt der
Essayist Christian Deysson. Belege für eine Verschlimmerung der
Zustände finden Schwarzmaler bevorzugt in der Arbeitswelt.
Forscher behaupten, Überstunden machten seelenkrank, ständige
Erreichbarkeit sowieso und neuerdings auch das Pendeln zur Arbeit.
Die Zahl der Fehltage wegen psychischer Leiden steigt wirklich. Das
mag ein Indiz sein für ein härteres Arbeitsleben. Möglich ist aber
auch, dass ermattete Patienten selbstbewusster als früher darauf
pochen, therapiert zu werden, dass Ärzte schneller mit
Krankschreibungen bei der Hand sind.
Vor allem liegt der Verdacht nahe, dass Krankenkassen, Nervenärzte
und Gewerkschaften psychische Leiden auch instrumentalisieren, um
Kürzungen zu verhindern, Geschäfte zu machen und mehr für ihre
Klientel herauszuschlagen. Angreifbar ist vor allem der
Referenzrahmen, in dem sich Kritiker des Berufsalltags bewegen: Sie
dämonisieren die Arbeitswelt mit ihrer angeblichen Verdichtung der
Aufgaben, ihrer Eintönigkeit und Undankbarkeit und verklären dadurch
die Vergangenheit.
Was war früher besser? Dass Maurer Wackersteine drei Stockwerke
hochschleppen mussten? Dass Handwerksmeister säumige Lehrlinge
mitunter ohrfeigten? Oder Bahnwärter ihr Brot damit verdienten,
Schranken hochzukurbeln? Setzen wir der Krankenstatistik eine Zahl
entgegen: Deutschland ist, Norwegen und Holland ausgenommen, das
Industrieland mit der niedrigsten tatsächlich geleisteten
Jahresarbeitszeit. 1419 Stunden betrug sie 2010 je Arbeitnehmer im
Schnitt, weniger als vier Stunden pro Kalendertag. Deutschland ist
ein Paradies.
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