Auf den ersten Blick scheint es so, als habe
Ägypten das Rad der Geschichte einfach zurückgedreht und wieder den
Zustand erreicht, in dem es sich in den letzten Tagen des
Mubarak-Regimes befunden hat. Doch so ist es nicht. Die Gräben, die
schon immer in der Gesellschaft vorhanden waren, sind in den
vergangenen zweieinhalb Jahren erst offensichtlicher und dann tiefer
geworden. Jeder auf dem politischen Parkett des Landes hat seinen
Anteil daran. Es gibt in Ägypten kein Gut und kein Böse. Gegenüber
stehen sich Wahnsinn und noch viel größerer Wahnsinn.
Es gibt auf keiner Seite auch nur den Hauch von Verständnis dafür,
dass ein funktionierendes Gemeinwesen Kompromisse benötigt. Diese
totale Unfähigkeit zum Kompromiss hat in Syrien in den letzten zwei
Jahren mehr als 100.000 Menschen das Leben gekostet. Die Angst,
Ägypten könne sich in ähnlichen Bahnen bewegen, ist vielerorts
greifbar. Man kann zwar nicht ausschließen, dass die radikalen Kräfte
auf Seiten der Muslimbrüder nun den bewaffneten Kampf gegen das
Militär aufnehmen. Dass es in ähnlicher Weise geschieht wie in
Syrien, ist dennoch unwahrscheinlich.
Sehr viel näher liegt die Möglichkeit, dass die von der Macht
Vertriebenen letztlich wieder dort hingehen müssen, wo sie schon
zuvor jahrelang gewesen sind: in den Untergrund. An potenziellen
Märtyrern, die von dort aus bereit sind, gegen die Staatsspitze zu
kämpfen, wird es nach den Ereignissen der vergangenen Tage bestimmt
nicht mangeln. Es steht zu befürchten, dass Gewalt mit Gegengewalt
beantwortet wird, dass sich eine Spirale der Vergeltung in Gang
setzt, die es in absehbarer Zeit unmöglich macht, sich dem Kern des
Problems zu nähern.
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