Auf der Durchreise
Frau Bundeskanzlerin, wohin führen Sie uns? Gute Frage. Sie wird
längst nicht nur von der Opposition gestellt oder von den Medien.
Auch die eigenen Parteifreunde begehren diese Auskunft. Aber Angela
Merkel hat Probleme, eine allseits überzeugende Antwort zu finden. Je
länger sie nicht liefert, was Sympathisanten und Wähler von ihr
erwarten, desto mehr Vertrauen in die CDU-Frontfrau wird schwinden.
Die günstige Gelegenheit, wenigstens die Zweifel ihres Parteivolks an
der Sinnhaftigkeit aktueller Entscheidungen zu zerstreuen, hat Angela
Merkel nicht genutzt. Sie hat ihre Kurskorrekturen der jüngsten
Vergangenheit mit dem tiefgreifenden Wandel der Welt begründet,
behauptet zugleich, dabei nicht vom hergebrachten Kompass der CDU
abgewichen zu sein. Diese Erklärung verfängt nicht einmal bei
eingefleischten Anhängern. Aber was bleibt der Partei, diesem über
Jahrzehnte bewährten „Kanzlerwahlverein“, anderes übrig, als der
Vorturnerin bei deren Verrenkungen zu folgen, auch wenn es weh tut?
Oder wenn, wie im Fall Europa, ihr Reformkonzept allzu vage bleibt?
Wo Helmut Kohl auf Parteitagen die Seele der Union zu streicheln
pflegte, erscheint Angela Merkel wie eine Weltpolitikerin auf
Durchreise, die davon ausgeht, dass die CDU schon goutiert, was die
Kanzlerin zur Rettung des Kontinents und zur Verteidigung ihrer Macht
in Deutschland unternimmt. Noch hat sie Erfolg damit.
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Südwest Presse
Lothar Tolks
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