Vor dem Zerfall
Seit Anfang der Woche dürfte es jedem klar sein: Der syrische
Bürgerkrieg ist dabei, wie eine tödliche Infektion den ganzen Nahen
und Mittleren Osten anzustecken. Der Zerfall des Irak wird dem
Zerfall Syriens folgen. Als nächstes könnte der Libanon an seinen
inneren Spannungen zerbrechen – von der Katastrophe der neun
Millionen syrischer Flüchtlinge ganz zu schweigen. Im Irak kamen
innerhalb weniger Tage eine Million Entwurzelte hinzu. Und die
siegreichen Gotteskrieger, wenn auch von den reichen Ölbaronen auf
der Arabischen Halbinsel finanziert, könnten sich beflügelt fühlen,
nun die gekrönten Emire und Monarchen am Golf ins Visier zu nehmen.
Was in Syrien als friedliches Aufbegehren des Volkes gegen das
Assad-Regime während des Arabischen Frühlings begann, könnte als
Großkatastrophe für die gesamte Region enden. Denn das politische
Kernproblem in diesem Teil der Welt ist immer das Gleiche: die
Unfähigkeit zum Kompromiss, eine politische Kultur, die Machtgebrauch
einzig als Nullsummenspiel begreift. Wer am Hebel sitzt, quetscht
alle Gegner unerbittlich an die Wand, bis ihnen schwarz vor Augen
wird. Westliche Mahnungen zu politischer Integration werden als naive
Moralpredigten belächelt. Respekt vor den legitimen Grundinteressen
von Minderheiten gilt als realitätsfremder Luxus. Bis die Gegängelten
eines Tages zu den Waffen greifen oder – wie jetzt im Irak – sich
Hilfe bei brutalsten Gotteskriegern holen.
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Südwest Presse
Ulrike Sosalla
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