Irgendetwas treibt die Bürger entweder auf die
Barrikaden oder in die Resignation. Offenbar reichen die
herkömmlichen Formen der politischen Partizipation – Mitgliedschaft
in Parteien, Teilnahme an Wahlen – nicht mehr aus, um die
parlamentarische Demokratie lebendig zu erhalten und ihre Akzeptanz
zu sichern. Immer mehr Menschen drücken ihren Willen in öffentlichen
Aktionen aus oder durch Verzicht auf ihr Stimmrecht. Das Volk
schwankt zwischen lautstarkem Protest und stillem Frust. Die
zunehmende Kluft, die Wähler und Gewählte voneinander trennt, bleibt
natürlich auch der politischen Klasse des Landes nicht verborgen.
Jüngst hat der Bundespräsident mit Sorge über diesen
Entfremdungsprozess gesprochen, doch war Christian Wulff weder der
erste Repräsentant des Staates, der das Thema als drängend entdeckt
hat, noch darf er behaupten, dass er in seiner bisherigen Rolle als
führender Vertreter der Parteiendemokratie mehr als andere dazu
beitragen konnte, die Distanz zum Bürger nicht weiter wachsen zu
lassen. Man muss also abwarten, ob es Wulff gelingt, neue Brücken
zwischen Bevölkerung und Politik zu bauen: Die einen zu ermahnen,
ihren Beitrag zum Gemeinwesen nicht auf eine bloße Antihaltung zu
beschränken, die anderen zu ermuntern, weniger Angst vor Volkes
Stimme zu haben. Schon der Vorgänger im Schloss Bellevue hatte
durchaus erkannt, dass da etwas auseinander läuft, was zusammen
gehört, nur hat Horst Köhler für sich selbst und die herrschende
Politik falsche Schlüsse daraus gezogen. Diesen Fehler sollte und
darf Christian Wulff nicht wiederholen. Intuitiv reagieren die
Adressaten des Unmuts sogar richtig auf die gesellschaftliche
Empörung über undurchsichtige Entscheidungen in der Politik und ein
Erstarken jener fünften Macht, die der frühere Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, im florierenden
Gewerbe von Interessenverbänden und Lobbyisten sieht. Die Parteien
scheinen den Ruf nach mehr direkter Demokratie zu hören und antworten
darauf mit breiteren Angeboten plebiszitärer Beteiligung, etwa durch
Bürgerbegehren oder basisdemokratische Kandidatenkür – zurück zu den
Graswurzeln der Volksherrschaft mithin. Ist das die Lösung? Vorsicht.
Lange schon debattiert der Bundestag über eine Ergänzung des
Grundgesetzes um direktdemokratische Instrumente, ohne den
repräsentativen Charakter unserer staatlichen Ordnung in Frage zu
stellen. Was in Gemeinden und Ländern längst politische Praxis ist,
stößt im Bund auf größere Reserven. Tatsächlich eignen sich kommunale
Genehmigungsverfahren oder das gegliederte Schulsystem eher für ein
Referendum als die Frage, ob sich die Bundeswehr nun aus Afghanistan
zurückziehen soll oder nicht. Besonders aber muss vor scheinbar
uneigennützigen Offerten der Parteien an Bürger oder Basis gewarnt
werden, wenn diese vorrangig taktischem Kalkül entspringen. Chancen
der Mitbestimmung bei Personal- oder Sachentscheidungen müssen echt
und effektiv sein, nicht aber wie im Fall von Stuttgart 21 der
verzweifelte Versuch, Verantwortung abzuwälzen und einem selbst
produzierten Dilemma zu entrinnen. Nur was wirklich zu mehr
Transparenz bei der Willensbildung in Parlamenten und Regierungen
führt, zu mehr Einfluss der Bürger sowie zu einem Aufbrechen der
Oligarchie von Parteifunktionären und Mandatsträgern zu Gunsten von
einfachen Mitgliedern oder Sympathisanten, zu mehr wirksamer
Beteiligung der Wähler an den Verhandlungen über die Geschicke dieses
Landes, wäre ein Gewinn. Volksentscheide als Alibi, Basisdemokratie
als Event indes helfen der Demokratie nicht aus der
Glaubwürdigkeitskrise.
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Südwest Presse
Lothar Tolks
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