WAZ: Der Prozess reißt Wunden auf – Kommentar von Christopher Onkelbach

Dieser Prozess ist eine Tortur. Für die
Überlebenden, für die Hinterbliebenen, die Angehörigen, für das
Gericht und das ganze Land. Die Morde trafen Norwegen ins Herz, und
der Prozess reißt die kaum verheilten Wunden wieder auf. Wie lässt es
sich ertragen, im Gerichtssaal ein Tonband mit den flehenden
Hilferufen eines Mädchens während des Amoklaufs anzuhören, während
der mitleidlose Täter regungslos dasitzt? Die Staatsanwaltschaft
breitet die Chronologie eines Massenmordes aus: 77 Tote, 27
Verletzte. Es ist eine unfassbare Verhöhnung der Opfer, dass sich der
Täter anschließend auf Notwehr beruft. Beschreibt das schon den
ganzen Wahnsinn des Mannes? Muss das alles sein? „Unsere Antwort ist
mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Humanität“, hatte der
norwegische Ministerpräsident Stoltenberg nach den Morden vor einem
halben Jahr gesagt. Vor diesem Hintergrund muss man den Prozess
sehen. Es geht nicht in erster Linie um den Täter, diese Mühe nimmt
das Land nicht wegen Breivik auf sich, sondern für die Opfer. Es sind
die menschlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Werte, die man
diesen grauenvollen Taten entgegenstellen muss und die beweisen, dass
eine Gesellschaft sich nicht vom Hass besiegen lässt. Am heutigen
Dienstag ergreift der Angeklagte das Wort. Es wird schwer zu ertragen
sein.

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