WAZ: Deutsch-türkische Missverständnisse. Leitartikel von Gerd Höhler

Als CSU-Chef Seehofer vor einer Woche vor
Zuwanderung aus „anderen Kulturkreisen“ warnte, meinte er auch die
Türkei. Die Reaktionen von dort waren bedacht: Lernt Deutsch, passt
euch den Sitten und Gebräuchen der Deutschen an, achtet ihre Gesetze
– so der Appell des türkischen Europaministers Bagis an seine in
Deutschland lebenden Landsleute. Das zeigt: in der Türkei, deren
Ministerpräsident Erdogan bisher die Auswanderer beschwor, nichts von
ihrer türkischen Identität aufzugeben, hat bei einigen ein Umdenken
begonnen. Davon können manche in Deutschland lernen.

Türken und Deutsche sprechen nicht nur verschiedene Sprachen. Sie
reden auch oft aneinander vorbei – wie in der Integrationsdebatte.
Sie wird dominiert von der Kritik am mangelnden Integrationswillen
vieler Zuwanderer. Aber Integration ist keine Einbahnstraße. Die
wichtige Frage, wie schwer vielen die Eingliederung gemacht wird,
kommt bisher zu kurz. Ein Beispiel: Vier von zehn Türken, die in
Deutschland ein Studium absolviert haben, gehen in die Türkei zurück,
weil sie in Deutschland bei der Suche nach einem Job oder einer
Wohnung diskriminiert werden, sich fremd fühlen. Dabei sind es diese
Leute, die das überalternde Deutschland dringend braucht. Gerade
diese türkischen Akademiker stört es, wenn sie, wie es in Deutschland
zunehmend geschieht, über eine Religion definiert werden, der sie in
vielen Fällen überdies distanziert gegenüberstehen.

Wer die Integrationsschwierigkeiten vieler Türken in Deutschland
vor allem am Islam festzumachen versucht, macht es sich zu einfach.
Die Probleme haben viele Ursachen. Auf türkischer Seite liegt eine
ihrer Wurzeln in einem übersteigerten Nationalismus, der gerade für
viele Deutsche vor dem Hintergrund ihrer eigenen gebrochenen
Geschichte schwer nachvollziehbar ist. Ein weiterer Grund für die
Integrationsschwierigkeiten ist die Bildungsferne vieler türkischer
Zuwanderer: Sie kommen oft aus Dörfern Ostanatoliens, entstammen
einer archaisch geprägten Gesellschaft. Sie hätten auch in Istanbul
Anpassungsprobleme.

Der wichtigste Schlüssel zur Integration sind die in Deutschland
immer noch unzureichenden Bildungs- und Ausbildungsangebote für
türkische Zuwanderer. Das in solche Angebote investierte Geld wäre
gut angelegt. In Deutschland gibt es rund 80 000 türkische
Unternehmer und Selbstständige. Sie beschäftigen über 400 000
Menschen, erwirtschaften einen Umsatz von mehr als 40 Milliarden
Euro. Diese Erfolgsbilanz zeigt, welche Chancen in einer
erfolgreichen Integrationspolitik liegen – auch für Deutschland.

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