Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hat
dafür gesorgt: Seit 1996 gedenkt der Bundestag am 27. Januar der
Befreiung der Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz. Dort
hatten die Nationalsozialisten die industrielle Vernichtung
europäischer Juden zu einer perfiden Perfektion getrieben. Und Marcel
Reich-Ranicki, einem der wenigen Überlebenden, gelang es gestern mit
Reden – aber auch mit Schweigen zur rechten Zeit – dem diesjährigen
Festakt im Parlament einen besonderen Stellenwert zu geben. Seine
Gedenkrede, die streng genommen ein Erfahrungsbericht war, bewegt
tief – und ist gleichzeitig bedrückend aktuell.
Dass der Festakt dermaßen unter die Haut ging, hat zuallererst mit
der Person Reich-Ranicki zu tun. Wir kennen ihn als gnadenlose
Literatur-Ikone, die heftige Verrisse schreibt und auch verbal
austeilen kann. Gestern musste der 91-jährige gestützt werden, seine
Stimme schien ihre Kraft verloren zu haben. Ihm zu folgen, erforderte
höchste Konzentration. Dennoch schaffte er es, bei besonders
wichtigen Passagen doch wieder mehr Energie in seine Sprache zu
legen. Fast noch eindrucksvoller war es, wenn er wie zu Beginn seiner
Rede lange schwieg und dabei sein Publikum anschaute – oder als
anschließend minutenlang Ruhe herrschte. Das kann keine geplante
Inszenierung Reich-Ranickis gewesen sein. Er tat sicherlich vieles
spontan. Doch alles war genau richtig. Wir sollten ihm danken, so
unbequem er auch sein mag.
Denn Reich-Ranicki verdeutlichte schonungslos, wie naiv der Glaube
ist, Deutschland könne seine finstere Vergangenheit einfach
abschütteln. Es muss sich diesem Thema weiterhin stellen. Das
bedeutet ausdrücklich nicht, sich ständig in Selbstvorwürfen zu
ergehen. Aber eine besondere Sensibilität ist angebracht.
Dies gilt besonders, wenn verstärkt Neonazis ihr Unwesen treiben.
Kein intelligenter Mensch, der gestern Reich-Ranicki zuhörte, kann
verstehen, was in den Hirnen solch junger und gleichzeitig
Ewig-Gestriger vorgeht. Doch wie reagiert die Gesellschaft darauf?
Verbote sind nur bedingt geeignet. Besser ist, die Vorteile einer
toleranten Welt überzeugend klar zu machen. Doch wenn wirklich, wie
behauptet, 20 Prozent der Bevölkerung latent antisemitisch
eingestellt ist, wird das ein schwerer Weg.
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