Westdeutsche Zeitung: Mit seiner Israel-Schelte begeht Grass einen Tabubruch = von Anja Clemens-Smicek

Ein sprachliches Meisterwerk ist das Gedicht
von Günter Grass sicher nicht – keine Metapher, die überraschend
daherkommt. Doch Grass geht es auch nicht um den künstlerischen
Anspruch seines Pamphlets, sondern um den Tabubruch, den er mit der
Israel-Schelte begeht. Den Staat Israel verbal anzugreifen, ist in
Deutschland stets ein riskantes Geschäft. Kanzlerin Angela Merkel gab
einmal die Linie vor: Die Sicherheit Israels zählt zur deutschen
„Staatsräson“. Tief verwurzelt sitzt hierzulande der Reflex,
Israel-Kritiker mit Donnergetöse in die rechte Ecke zu stellen und
mit dem Verdikt „Antisemitismus“ zu belegen. Dessen war sich der
Literaturnobelpreisträger beim Verfassen seines Gedichts bewusst.
Seine Einlassungen werden dadurch zwar nicht verständlicher. Wenn wir
ihnen aber etwas Positives abgewinnen wollen, dann, dass er den
Finger in diese Wunde legt. „Was gesagt werden muss“ ist trotzdem die
Selbstdemontage eines Mannes, der für viele den Status einer
moralischen Instanz innehatte. Das Gedicht zeigt aber auch, dass die
Affinität zum Wort einen Schriftsteller noch lange nicht in die Lage
versetzt, auf politischem Terrain ein profundes Urteil zu fällen.
Doch in diese Falle tappten vor Grass schon andere Literaten – denken
wir an Peter Handke, der wegen seiner Parteinahme für Serbien während
des Balkankrieges auf den Düsseldorfer Heine-Preis verzichten musste.
Und Günter Grass? Hätte er für seine Kritik den Umgang Israels mit
den Palästinensern gewählt, wäre er kaum angreifbar gewesen. Aber
seine Argumente sind erlesen schlecht gewählt und beschreiben eine
verzerrte Weltsicht. Hier erklingt mit der Stimme des Dichters eine
politische Ansicht, die eher als weltfremd und wenig beeinflusst
durch Sachkenntnis daherkommt. Es bedarf einer gehörigen Portion
Phantasie, um den Iran in die Opferrolle zu setzen. Sicher ist es
unfair, Grass seine unrühmliche Vergangenheit in der Waffen-SS
vorzuwerfen. Denn dies entspricht exakt jenem Muster, welches der
Autor selbst anprangert. Dennoch wirken Grass“ Verbalattacken gegen
die „gleichgeschaltete Meinung“ wie blinde Vorwärtsverteidigung und
nicht verarbeitete Vergangenheitsbewältigung. Dem Vorwurf der
Naivität wird er sich sehr wohl stellen müssen.

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