Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Joachim Gauck

Spannend wird die Wahl des Bundespräsidenten
nicht. Diese Prognose ist ohne Risiko: Die 15. Bundesversammlung wird
Joachim Gauck im ersten Wahlgang zum neuen Staatsoberhaupt küren.
Kann der parteilose Kandidat dabei alle Stimmen der ihn tragenden
Parteien CDU, CSU, SPD, FDP und Grüne auf sich vereinigen, ist ihm
gar ein Ergebnis von fast 90 Prozent sicher. Vor einem Holperstart,
wie ihn sein Amtsvorgänger Christian Wulff erlebte, muss sich Joachim
Gauck nicht fürchten. Trotzdem baut der 72-Jährige vor. Es sei ihm
bewusst, dass es »ein gewisses Grummeln in manchen Milieus« gebe,
sagte Gauck am Freitag. Heißt im Klartext: Abweichler aus der ganz
großen schwarz-gelb-rot-grünen Koalition sind einkalkuliert und noch
kein Drama. Einen tieferen Einblick in sein Seelenleben gewährte
Gauck jedoch, als er hinzufügte: »Ich habe mein Leben nicht so
angelegt, dass ich Everybody“s Darling werde.« Fraglos haben die
vergangenen vier Wochen, in denen er als Präsident im Wartestand
klugerweise wenig von sich hören ließ, dafür aber umso mehr zu hören
bekam, bei Gauck Spuren hinterlassen. Die Kritik an seinen privaten
Lebensverhältnissen, die Zweifel an seiner Authentizität als
DDR-Bürgerrechtler, der skeptische Blick auf seine Selbstbeschreibung
als »linker, liberaler Konservativer«, seine vermeintliche Verengung
auf das Thema Freiheit und das Sezieren einzelner, zum Teil
vollkommen aus dem Zusammenhang gerissener Zitate – all das hatte er
sich so ganz sicher nicht vorgestellt. In der Tat markiert diese
Betrachtung des Kandidaten einen bemerkenswerten Widerspruch zur
Bundespräsidentenwahl im Jahr 2010. Als vermeintlich chancenloser
Herausforderer war Gauck damals erst als der Bessere fürs Bellevue in
aller Munde und blieb nach seiner knappen Niederlage als »Präsident
der Herzen« im Gedächtnis der Republik. Von Kritik keine Spur. Nun
gehört es fraglos zu den Vorzügen der Demokratie, dass der Favorit
für ein Amt das öffentliche Interesse besonders zu spüren bekommt.
Doch bleibt es angesichts der kollektiven Begeisterung von einst ein
Phänomen, dass in dem Moment, in dem Gauck das Amt sicher ist, die
Zweifler lauter und schriller als je zuvor zu hören sind. Offenkundig
fällt es unserer Gesellschaft schwer, Maß und Mitte zu finden. Das
gilt genauso für die übergroße Erwartungshaltung mancher
Gauck-Anhänger. Folgt man ihrer Einschätzung, muss das neue
Staatsoberhaupt nicht weniger als ein wahrer Heilsbringer sein. Ein
Über-Präsident, der Unmögliches sofort erledigt und bei dem Wunder
keinesfalls ausgeschlossen sind. Jede Ernüchterung oder Enttäuschung
gar scheint undenkbar zu sein. Joachim Gauck ist zu wünschen, dass er
sich weder von der einen noch von der anderen Seite verrückt machen
lässt. Das wird schwer genug. Und es ist an ihm, zu beweisen, dass er
ein guter Bundespräsident für alle Bürger sein kann. Zu beobachten,
ob es ihm gelingt, wird spannend.

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