Als Helmut Kohl, der Altkanzler und Historiker,
1984 von der »Gnade der späten Geburt« gesprochen hat, da wussten die
meisten Deutschen noch, wovon er redete. Heute, fast 30 Jahre später
und 80 Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, leben
nur noch wenige, die das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte
als Erwachsene miterlebt haben.
Mehr noch: Selbst diejenigen, die – und sei es als Kinder der
Täter, Mitläufer und Opfer – an der Aufarbeitung der Verbrechen
beteiligt gewesen sind, fühlen, dass sie in der deutschen Bevölkerung
schrittweise zur Minderheit werden. Gerade jetzt bekennt August
Oetker: »Mein Vater war ein Nationalsozialist.« Kann man von
Angehörigen der Enkelgeneration erwarten, dass sie die Tragweite
dieses Eingeständnisses eines führenden Bielefelder Unternehmers
ermessen? Ihre erste Reaktion wird wohl sein: »Und warum sagt er das
erst jetzt – im Alter von 69 Jahren?«
Nur wer zurückschaut, kann verstehen. Deutschland war Ende der
sechziger Jahre gespalten, und zwar nicht nur in Ost und West, also
in DDR und BRD, sondern ebenso in die »Achtundsechziger« und ihre
Gegner. Diese Spaltung durchzog auch eine Stadt wie Bielefeld. Hier
entzündete sie sich an der Frage, ob die von einem Unternehmer
gestiftete städtische Kunsthalle nach dessen Stiefvater Richard
Kaselowsky benannt werden darf – auch wenn dieser Mitglied der NSDAP
gewesen ist. Die Antwort spaltete damals selbst die SPD.
Alt-Oberbürgermeister Artur Ladebeck unterstützte die Oetkers,
NRW-Ministerpräsident und Parteifreund Heinz Kühn die Gegner. Rudolf
August Oetker blieb stur. Als er sich nicht durchsetzen konnte, zog
er aus Protest seine Kunstsammlung zurück. »RAO«, wie er im
Unternehmen genannt wurde, wollte verhindern, dass sein von ihm sehr
geachteter Stiefvater »in den Dreck gezogen« wurde. Heute weiß man,
dass er selbst dieser verheerenden Ideologie angehangen hat.
August Oetker und seine Geschwister haben den Vater gefragt. Am
Ende akzeptierten sie, dass er nicht antworten wollte. Sie hätten
sich gegen ihn stellen können – und damit den Bruch in der Familie
riskiert. Das haben sie nicht gewagt. Die Frage, ob man sich selbst
anders verhalten hätte, muss jeder für sich beantworten.
Immerhin hat sich Oetker im Jahr 2000 an der Entschädigung der
Zwangsarbeiter beteiligt. Immerhin hat das Unternehmen die am Montag
als Buch erscheinende Studie bei unabhängigen Historikern in Auftrag
gegeben. Immerhin hat sich die Familie schrittweise der Wahrheit
genähert. August Oetker verhält sich damit anders als sein Vater. Er
hat – wenn auch nicht zu Lebzeiten des Vaters – klar gemacht, dass
Wahrheit mehr zählt als das familiäre Band. Doch die Aufarbeitung der
Vergangenheit ist damit nicht abgeschlossen. Weder für Oetker noch
für Deutschland. »Bewältigen« in dem Sinne, dass man sie ein für alle
mal abhaken kann, lässt sie sich ohnehin nicht.
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