Niemand sollte ernsthaft daran zweifeln, dass
Jean-Claude Juncker am heutigen Tag als neuer Kommissionspräsident
ausgerufen wird. Nicht einmal seine spätere Wahl durch das
Europäische Parlament erscheint fraglich. Doch der Preis für diese
Personalie wider Willen ist hoch. Gegen ihren erklärten Willen haben
sich vor allem die konservativen Staats- und Regierungschefs in die
Idee der Spitzenkandidatur drängen lassen. Nun werden sie verlieren,
weil sie Juncker wollen müssen, um die Wähler nicht zu verprellen.
Und weil sie sonst einen Bruch mit dem Europäischen Parlament
riskieren. Gravierender dürften die politischen Konsequenzen dieser
Entscheidung sein, aus der man nicht mehr herauskommt. Denn wenn die
28 Staatenlenker zwei der ihren überstimmen, schüren sie eine
europäische Urangst, die man mit dem selbstauferlegten Zwang zur
Einstimmigkeit bisher unter der Decke halten konnte: Es ist die
Furcht, dass man demnächst nicht mehr einen Kompromiss suchen muss,
sondern bei einer Abstimmung auch unterliegen kann. Wer überstimmt
wird, fühlt sich erpresst. Diese Angst ist greifbar. Sie prägt die
Debatte um die strikte Haushaltsüberwachung, die man in Krisenzeiten
als Signal an den Vertrauensverlust des Finanzmarktes erfand und nun
am liebsten wieder abschaffen würde. Die nationale Freiheit, Schulden
zu machen, wie es die gerade amtierende Regierung für richtig hält,
feiert ihre Auferstehung. Tricks und Kniffe haben Saison, das Gerede
von guten und schlechten Schulden gehört hierher. So ist es denn auch
kein Wunder, dass ausgerechnet Italien und Frankreich die Spitze
derer anführen, die die Empfehlungen aus Brüssel zur Sanierung ihrer
Etats als lästig empfinden und sie wieder loswerden wollen. Das
jährliche Auflisten der Schwachstellen kommt einem miserablen
Zwischenzeugnis für die Regierungen gleich, ausgebreitet vor aller
Öffentlichkeit. Nun entdeckt man die im Stabilitäts- und
Wachstumspakt angelegte Möglichkeit der flexiblen Anwendung wieder.
Das ist unterm Strich nichts anderes als eine Form des
legitimitierten Ungehorsams. Wie man als Staats- oder Regierungschef
seinem Volk, das man lange zum Sparen zwingen musste, verklickern
will, dass das eigentlich nicht so dringend ist, dürfte spannend
werden. Die EU bleibt dabei nicht nur auf der Strecke, sie
entwickelt sich sogar wieder zurück, weil die gerade erst gefundene
Einsicht in die Notwendigkeiten eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes
wieder gekippt wird. So kommt man nicht voran, man fällt zurück.
Junckers Ernennung zum Kommissionschef wird aus diesem Blickwinkel
keine Krönung, sondern fast schon eine Demontage. Der Mann müsste
sein eigenes Werk der letzten Jahre selber wieder zerfleddern. Wer
auch immer während des Wahlkampfes von einem Neuanfang gesprochen
hatte – so war das sicher nicht gemeint.
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Andreas Kolesch
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