Während das politische Berlin am Freitagabend
den Bundespresseball feierte, machten sich die Grünen auf den Weg zum
Parteitag nach Kiel. Merkwürdig, dass ausgerechnet die Grünen tagen
statt tanzen, war doch in diesem Jahr keine Partei erfolgreicher. Bei
allen Landtagswahlen haben die Grünen klar hinzugewonnen, neben Union
und SPD sind sie als einzige Partei in allen 16 Landtagen vertreten,
und in Baden-Württemberg ist es ihnen gar gelungen, mit Winfried
Kretschmann den ersten grünen Ministerpräsidenten ins Amt zu bringen.
Selbst beim Kampf gegen die Kernkraft sind sie am Ziel angelangt. Der
Atomausstieg ist beschlossene Sache. Die Frage also sei erlaubt:
Haben die Grünen ihre Lockerheit verloren, oder wollen sie, vom
Erfolg beseelt, einfach nur noch mehr? Beides ist richtig. Dieser
Parteitag ist Ausdruck grünen Ehrgeizes wie grüner Sorgen. Kurssuche
in Kiel: Längst hat die Partei erkannt, dass nichts vergänglicher ist
als der Ruhm. Doch ist das Absinken in den jüngsten Meinungsumfragen
von Spitzenwerten jenseits der 20 Prozent hinab auf 15 Prozent nicht
das Problem. Schließlich markiert dieser Wert noch immer überdeutlich
das neue Gewicht der Grünen. Im Unterschied zur FDP, deren Höhenflug
bei der Bundestagswahl 2009 eher den zahlreichen misstrauischen
Unionsanhängern zu verdanken war, sind die Grünen dabei, sich nicht
nur als dritte politische Kraft, sondern als Mittelpartei zu
etablieren. Anders ausgedrückt: Mit Ausnahme eines immer noch »Große
Koalition« genannten Bündnisses aus CDU/CSU und SPD gibt es derzeit
keine realistische Konstellation, bei der die Grünen nicht an der
Regierung beteiligt sind. Die spannenden Fragen nun aber lauten: Was
fangen die Grünen mit dieser strategischen Stärke an? Ketten sie sich
mit Blick auf 2013 an die SPD oder lassen sie die Tür für
Schwarz-Grün doch einen Spalt weit offen? Wie definieren sie ihre
inhaltlichen Schwerpunkte neu? Und wie verantwortungsbewusst ist ihr
Regierungshandeln? Die Fallhöhe ist so oder so beachtlich, wie
allein der aktuelle Castor-Transport beweist. Dass einmal ein grüner
Ministerpräsident und mit Jürgen Trittin ein grüner Fraktionschef
unisono den Kampf gegen die Atommülltransporte für beendet erklären
würden, wäre vor kurzem undenkbar gewesen. Schon ist das Gegrummel an
der Basis unüberhörbar. Nach dem Volksentscheid zu Stuttgart 21 am
Sonntag dürfte es noch lauter werden. Erst recht vor dem Hintergrund,
dass mit der Piratenpartei die frischeren Systemkritiker – sozusagen
die Grünen 2.0 – schon bereitzustehen scheinen. In Kiel erwartet die
Grünen eine schwierige Gratwanderung zwischen bestens bekannten
Gewissheiten und bislang unbekannten Herausforderungen, zwischen
neuem Selbstbewusstsein und neuen Selbstzweifeln. Sie nehmen sich
wohl auch deshalb keine Zeit zum Tanzen, weil sie nicht recht in
Stimmung sind.
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Andreas Kolesch
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