Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Reichtumsbericht

Die Reichen werden immer reicher. Skandal. Der
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wurde gestern vorab
bekannt und löste das vorhersehbare Reiz-Reaktionsschema aus. Die
reichsten zehn Prozent der Haushalte halten mehr als die Hälfte des
gesamten Vermögens, während die untere Hälfte der Haushalte nur über
gut ein Prozent verfügt. Will sagen: Die Zahl der Villen und Jachten
nimmt zu. Solche Vorstellungen befeuern die Entrüstung – ganz klar.
Da wundert man sich fast, dass Joachim Poß für die
SPD-Bundestagsfraktion nur eine »maßvolle Anhebung« der Steuern auf
hohe Einkommen und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer fordert.
Gewerkschaften, Sozialverbände und Linke starteten die vorbereitete
Kampagne »Umfairteilen«. Wir erleben den Auftakt zu einer neuen
Debatte über Gerechtigkeit, mit der ein Jahr vor der Bundestagswahl
klargestellt werden soll, wo das wahre soziale Gewissen seinen Platz
hat: links von der Mitte. Dennoch funktioniert die Ausschlussmethode
bei genauer Betrachtung des Berichtes aus dem Hause von
CDU-Ministerin Ursula von der Leyen nicht. Weder kann man den
Regierungen Kohl, Schröder und Merkel vorwerfen, sie hätten in den
vergangenen 20 Jahren den Reichen das Geld nur so in die Taschen
gestopft und den Armen das letzte Hemd genommen. Noch bedeutet der in
der Tat erhebliche Vermögenszuwachs bei den obersten zehn Prozent
dieser Gesellschaft, dass am anderen Ende der Skala ähnliche Exzesse
nach unten stattgefunden hätten. Weder 1992 noch 2012 muss
hierzulande einer unter der Brücke schlafen oder gar hungers sterben.
Hartz IV und Grundsicherung sind zuverlässige Schutzwälle gegen
Dritte-Welt-Verhältnisse. Jeder Steuerzahler darf stolz sein, dass er
mit seiner Hände Arbeit keinen auf der Strecke lässt. Die
Verdoppelung des Wertes aller privaten Besitztümer von 4,6 Billionen
Euro 1992 auf heute 10 Billionen Euro verliert bei genauem Hinsehen
ihren Alarmcharakter. 3,8 Prozent Inflation und Rendite verdoppeln in
20 Jahren den Betrag, wie die Zinsrechnung lehrt. Weniger gefragt war
gestern, weshalb das Vermögen des Staates im selben Zeitraum um mehr
als 800 Milliarden Euro schrumpfte. Die Antwort führt in eine
Richtung, die Anhänger von Neiddebatten weniger schätzen: Der Staat
hat über seine Verhältnisse gelebt. Und: Es gibt keine »guten«
Schulden. Das Euro-Desaster beruht auf einer Staatsschuldenkrise,
deren Bekämpfung noch mehr Lasten für die Jungen verursacht. Mit
jedem weiteren Kredit liefert sich der Staat jenen Ratingagenturen
aus, denen er dringend entkommen muss. Fazit: Eine Reichendebatte ist
in diesem politischen Herbst fällig. Sie sollte sich aber nicht
allein an Aktiva berauschen, sondern auch Passiva sehen. Dort droht
weitere Ungerechtigkeit.

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