Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Analphabetismus

In einem Land mit allgemeiner Schulpflicht kann
jeder lesen und schreiben. Ein fataler Irrtum. Lange hat es in
Deutschland keine belastbaren Zahlen zum Thema Analphabetismus
gegeben. Im Frühjahr kam der Paukenschlag: 7,5 Millionen Menschen
zwischen 18 und 64 Jahren ringen täglich mit dem geschriebenen Wort.
Sie sind funktionale Analphabeten. In einem Industrieland mit hohem
Bildungsniveau absolut inakzeptabel. Analphabetismus ist in
Deutschland kein Nischenproblem mehr. Bei der Bekanntgabe der
Ergebnisse der »Leo-Level-One«-Studie der Universität Hamburg haben
die Beteiligten gehofft, nun käme der große Aufschrei. Bislang war
man von nur vier Millionen Betroffenen ausgegangen. Doch er blieb
aus. Die Veröffentlichung ging in der Plagiatsaffäre um den
ehemaligen Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU)
unter. Völlig unangemessen! Es ist höchste Zeit, endlich
gegenzusteuern – auf zwei Ebenen. Die eine ist das System. Es ist
unmöglich für Lehrer, in Klassen mit 30 Kindern oder mehr auf einen
Schüler so gezielt einzugehen, dass er die Scham vor seiner
Leseschwäche verliert. Kleinere Klassen und individuelle Förderung in
Eins-zu-Eins-Betreuung sind die einzigen Wege, die die Gefahr von
funktionalem Analphabetismus schon bei Kindern verringern können. Das
kostet Geld, ist aber unumgänglich. Pädagogen müssen im Umgang mit
dieser Form massiver Lese- und Schreibstörung weitaus besser geschult
werden. Das ist längst überfällig. Nur so kann die Überforderung im
Klassenraum beendet werden. Schule kann aber nicht alles leisten. Es
muss abgestellt werden, dass die Förderung von Analphabeten vom
Geldbeutel der Eltern abhängt. Es braucht flächendeckend
Alphabetisierungskurse, die der Staat im Sinne einer zukunftsfähigen
Gesellschaft finanziert. Das hat Bildungsministerin Annette Schavan
(CDU) angekündigt. In Frankreich und Großbritannien gibt es sogar
zentrale staatliche Anlaufstellen für Analphabeten. Daran sollte sich
Deutschland unbedingt ein Beispiel nehmen. Die zweite Ebene, auf der
gegengesteuert werden muss, ist der Umgang mit Analphabeten. Kann
jemand nicht gut rechnen, wird gesagt: »Nimm einen Taschenrechner und
such Dir einen Job, in dem Du nichts mit Zahlen zu tun hast«. Kann
jemand nicht lesen und schreiben, schauen viele Menschen auf ihn
herab. Dabei hat Analphabetismus nichts mit mangelnder Intelligenz zu
tun. Denn 48 Prozent der in der Studie Befragten besitzen einen
Hauptschulabschluss, 19 Prozent sogar die Mittlere Reife. Wer die
Studie mit der Argumentation herunterspielt, es handele sich nur um
Migranten, sollte wissen, dass 58 Prozent der Betroffenen Deutsch als
Muttersprache sprechen. Die Gesellschaft ist verpflichtet,
Analphabeten Mut zu machen. Ein kurzer Verweis auf Winston Churchill,
Albert Einstein und Hans Christian Andersen macht Hoffnung. Alle drei
waren Legastheniker.

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Andreas Kolesch
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