Bundespräsident Christian Wulff reist vier Tage
in die Türkei. Sein Besuch soll die deutsch-türkischen Beziehungen
festigen, doch er steht auch im Zeichen der Verhandlungen über die
EU-Mitgliedschaft, die nur schleppend vorankommen. Die Türkei hofft
nun auf ein gutes Wort vom Bundespräsidenten. Seit Wulff den Islam zu
Deutschland gehörig erklärt hat, ist er in Ankara gewiss besonders
gern gesehen. Doch beim EU-Beitritt geht es nicht um Sympathie und
Beliebtheit. Hier steht die Frage im Raum, ob die Türkei die
Beitrittsbedingungen der EU erfüllen kann und will und sich Europa
rechtlich, politisch und wirtschaftlich anpasst. Gelingt dies, kommt
der EU-Beitritt in Frage. Gelingt dies nicht, bleibt die Türkei vor
der Tür. Die Religionsfreiheit ist eine rechtliche Voraussetzung für
jedes Land, das die EU-Mitgliedschaft anstrebt oder besitzt.
Religionsfreiheit bedeutet jedoch mehr als Glaubensfreiheit: Kirchen,
Synagogen, Moscheen und Tempel dürfen Grundbesitz erwerben, ihre
Prediger ausbilden und internationalen religiösen Institutionen
angehören. Eine Kontrolle, Zensur oder Beschränkung dieses Rechtes
findet nicht statt. Doch hier liegt das Problem der Türkei: Sie
gewährt zwar laut Verfassung die Glaubens- und Religionsfreiheit,
aber in der Praxis wird die Religionsausübung behindert und
kontrolliert. Nichtmuslimischen Minderheiten wird das Recht
verweigert, Religion als Gemeinde auszuüben und einen
zivilrechtlichen Status zu besitzen. Christliche und jüdische
Gemeinschaften existieren in einem rechtsfreien Raum. Die religiöse
Selbstorganisation ist nur als Stiftung erlaubt, und diese Stiftungen
werden ständigen Diskriminierungen ausgesetzt. Die Religionsfreiheit
ist somit nicht gewährleistet. Ankara erkennt zwar den Vatikan als
Staat an, nicht aber die katholische Kirche als eine autonome
Glaubensgemeinschaft in der Türkei. Da die etwa 100 000 Christen über
Diskriminierung klagen, hat Papst Benedikt XVI. bei seinem
Türkeibesuch 2006 die »Garantie der tatsächlichen Freiheit aller
Gläubigen« gefordert. Es ist somit verständlich, dass die
nichtmuslimischen Minderheiten den EU-Beitritt ersehnen: Er soll
Ankara zwingen, ihnen die gleichen Rechte zu gewähren. Die faktische
Missachtung der Religionsfreiheit ist umso erstaunlicher, als nur 0,2
Prozent der Türken einer nichtmuslimischen Religion angehören. Da die
Türkei ein fast absolut muslimisches Land ist, wird kein Christ oder
Jude die Türkei religiös unterwandern. Die Türkei muss einsehen, dass
es ohne die praktizierte Religionsfreiheit keinen EU-Beitritt geben
wird. Für den Bundespräsidenten gehört der Islam zu Deutschland; nun
muss er nur noch klar verkünden, dass auch das Christentum zur Türkei
gehört. Wenn Ministerpräsident Erdogan diesen Satz bestätigt, wäre
die Forderung nach Gegenseitigkeit erfüllt. Alles andere wäre eine
Enttäuschung.
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