Am Anfang war das doch so: Weil die Menschen nicht
schreiben und nicht lesen konnten, mussten sie ins Erzählen kommen.
Die Literatur begann mit der Konzentrationsfähigkeit, der listigen
Auffassungs- und Erfindungsgabe, dem feinen Ohr und dem guten
Gedächtnis von Analphabeten. Mythos und Kinderreim, Märchen und Lied,
Gebet und Rätsel – alles älter als die Schrift. Zur heute Abend
beginnenden Frankfurter Buchmesse kurz und bündig: Es muss ein neuer
Analphabetismus her!
Also: Schauen wir künftig nur noch ungläubig, grundsätzlich
verständnislos auf das Schrifttum der Tonangeber. Wenden wir uns von
nun an ab von dem, was bloß immer auf dem Papier steht. Ja, es ist zu
geduldig. Machen wir Schluss mit dem Zustand, immer nur
buchstabengetreu zu sein. Blicken wir auf Börsenberichte so, als
seien wir stolz darauf, nicht bis drei zählen zu können. Schauen wir
bei Parteiprogrammen nur noch zwischen die Zeilen. Weigern wir uns,
in sogenannten heiligen Schriften die Zukunft zu lesen – lesen wir
einander die Wahrheit von den angstvollen oder zornweiten oder
staunensgroßen Augen ab. Lassen wir Mahnschreiben ungeöffnet wie das
Buch mit den sieben Siegeln. Verlachen wir die Warnung, wir sollten
uns dies und das hinter die Ohren schreiben. Bleiben wir denen, die
uns kalt ins Visier nehmen, unleserlich.
Literatur begann mit Mundpropaganda. Die uns das Heft des Handelns
aus den Händen nehmen und das Demokratie nennen – denen werden wir
was erzählen! Lesen? Ja doch, wie es im Buche steht: die Leviten.
Pressekontakt:
Neues Deutschland
Redaktion
Telefon: 030/2978-1715